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Persönlichkeiten der Pferdeszene: Christoph Hess

Der Botschafter

Die deutsche Reitlehre in die Welt tragen – das hat sich Christoph Hess zur Aufgabe gemacht. Man könnte auch sagen: Pferd ist sein Programm, 24/7. Nicht unbedingt im Sattel, vielmehr am Boden, am Richtertisch und in Seminarräumen. Zum 70. Geburtstag eines Ausbildungsbotschafters.

Christoph Hess im Garten seines Warendorfer Wohnhauses. Fotos (6): Jacques Toffi

„Ich liebe Pferde und Menschen, beides gleichermaßen“ – aus diesem Blickwinkel heraus hat Christoph Hess all seine Entscheidungen getroffen und seinen Lebensweg gewählt. Aus diesem Blickwinkel heraus gelten seine tägliche Aufmerksamkeit und sein ganzes Engagement der Ausbildung von Pferden, besser gesagt den Pferden mit ihren Reitern als Team. Geführt hat ihn sein Weg nach Warendorf, in ein kleines Häuschen am Stadtrand, westfälischer Klinker, akkurat gepflegter Garten, liebevoll arrangierte, üppige Blumenbeete und freier Blick auf ein Getreidefeld – „Nachts kommen die Rehe und machen sich an den Blumen zu schaffen“. Christoph Hess empfängt herzlich trotz gebührendem Corona-Abstand. Schnell ist klar, dass sein Interesse an Pferden groß ist, aber eben auch an den Menschen, denen er begegnet. Im Gespräch geht es erst einmal gar nicht um ihn, er möchte wissen, wer sein Gegenüber ist, macht sich ein Bild und fragt nach, bevor er beginnt, von sich zu erzählen.

Im Herzen FN

Der 70-Jährige ist seit rund 30 Jahren Richter in Dressur und Vielseitigkeit, national und international. Er hat Olympische Spiele, Welt- und Europameisterschaften gerichtet, er saß in Aachen und bei der WM der jungen Dressurpferde am Richtertisch und war in Europa, Asien, Australien und den USA im Einsatz. In der Vielseitigkeit hat er mit Ausnahme von Burghley alle Fünf-Sterne-Prüfungen als Richter besetzt. Noch länger arbeitet er für die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN): Direkt nach dem Studium fing Christoph Hess am 1. Januar 1978 in Warendorf an. Der Diplompädagoge für Erwachsenenbildung hat das Bundesleistungszentrum geführt und er war Leiter der Abteilung Ausbildung sowie des Bereichs Persönliche Mitglieder.

Hess in seinem Element: Mit Glocke am Richtertisch.

Auch seitdem er im Mai 2016 seine Rente angetreten hat, ist er weiterhin für den Dachverband im Amt – als „Ausbildungsbotschafter“. Er trainiert, gibt Seminare und Schulungen, Aus- und Fortbildungen für Trainer und Ausbilder und Lehrgänge weltweit. 42 Jahre lang ein Unternehmen. „Die FN hat gelernt, mit mir zu leben“, begründet er die lange Zusammenarbeit mit einem Grinsen. Er sagt: „Ich bin im Herzen FN, aber nicht durch und durch Funktionär. Denn wenn ich nicht zu hundert Prozent hinter etwas stehe, kann ich das nicht vertreten. Das Kreative ist mein Ding und bei der FN habe ich bis heute viele Möglichkeiten, mich zu verwirklichen.“

Jungpferdeliebe

Bei all seinen Tätigkeiten hat es Christoph Hess der Pferdenachwuchs am meisten angetan. „Jungpferdeprüfungen zu richten – das mache ich irre gern!“, betont er und wenn er erzählt, merkt man ihm den Moderator und Referenten an. Er spricht lebhaft, emotional, betont, mal lauter, mal etwas leiser, hier und da fällt ein englisches Wort – bunt wie sein Kleidungsstil. 1989 gab es ein Pilotprojekt. In einer Dressurpferdeprüfung schnappte sich Christoph Hess ein Mikrofon und begründete die Notengebung. Damit war der Anfang gemacht für kommentierte Prüfungsformate wie bei der Weltmeisterschaft der jungen Dressurpferde und beim Bundeschampionat.

Sobald man Christoph Hess reden hört, hat man sofort das Warendorfer Dressurviereck mit den grünen Richterhäuschen vor Augen, denn jahrzehntelang gehörte seine Stimme zum Bundeschampionat wie der Steigbügel an den Sattel. „Den Menschen etwas zu erklären, macht mir unheimlich Spaß. Dabei bin ich immer wohlwollend, wobei auch ich in das ein oder andere Fettnäpfchen getreten bin – aber das gehört dazu.“ Ab und an polarisierte Hess am Mikrofon, aber seine Bemühung war immer, das Gute eines Rittes hervorzuheben und das weniger Gute konstruktiv zu kritisieren, so dass alle Beteiligten sich nicht bloßgestellt vorkamen.

Familienbande

Mit seiner Frau Ilse, die er 1974 in Göttingen kennenlernte, hat Christoph Hess zwei Söhne und eine Tochter: Philipp, Christian und Friederike. Ilse Hess ist eine geborene Diebig, ihre Familie züchtete Hannoveraner und Trakehner, ihnen gehört der Hof Bettenrode in Niedersachsen, den Philipp Hess mittlerweile übernommen hat. Ilse Hess selbst hat 40 Jahre lang als Grundschullehrerin gearbeitet und unterrichtete im Rahmen des Sportförderunterrichts Schulkinder im Reiten.

Der Hof Bettenrode in Niedersachsen ist die Heimat von Hess‘ Ehefrau Ilse. Der Betrieb wird heute von seinem Sohn Philipp geführt.

Die Leidenschaft für Pferde und das Reiten haben Christoph und Ilse Hess an ihre Kinder weitergegeben und unterstützen sie, wo sie können. Alle drei (!) sind Pferdewirtschaftsmeister. Philipp Hess, Anfang 1978 geboren, hat die Bundeswehrsportschule besucht, eine landwirtschaftliche Lehre absolviert und die Meisterprüfung sowohl im Reiten und als auch in Zucht und Haltung abgelegt. Außerdem ist er Diplom-Trainer. Seit 2000 leitet der Dressurausbilder den Hof Bettenrode und veranstaltet die großen Bettenröder Dressurtage mit Nürnberger Burg-Pokal-, Louisdor-Preis- und Bundeschampionats-Qualifikationen sowie mehrere Late Entry-Turniere.

Die Äpfel vom Stamm

Christian Hess ist zwei Jahre jünger als Philipp. Er hat unter den Fittichen von Lutz Merkel Teamgold bei der Pony-EM im Springen gewonnen, ist bis Nationenpreis geritten und bei der Deutschen Meisterschaft in Balve 2016 Deutscher Vizemeister geworden. Gelernt hat er bei „Kaiser“ Johannsmann und er war bei Paul Schockemöhle, Otto Becker und dem Holsteiner Verband stationiert, bis er sich in Radeforst selbstständig gemacht und sich schließlich mit Vielseitigkeitskollege Dirk Schrade zusammengetan und u. a. die Springserie „Nordic Jumping“ ins Leben gerufen hat. Die dritte im Bunde ist Friederike. Die 31-Jährige hat studiert und den Master in General Management abgelegt und ist dann bei ihrem Bruder Christian in die Lehre gegangen. Sie war einige Jahre im westfälischen Pferdezuchtverband tätig und arbeitet nun bei Springreiter Jens Baackmann in Nordrhein-Westfalen.

Christoph Hess ist auch als Moderator von Veranstaltungen ein gefragter Mann, hier beim 1. Symposium von Ingrid Klimke.

„Ich lebe das, was ich tue”

Christoph Hess war es, der seinen Kindern das 1×1 des Reitens beigebracht hat – so wie vielen anderen Reitern auch. Dabei legt er immer Wert auf eine breit angelegte Grundausbildung, ausgehend von der Natur des Pferdes. „Ich bin Verkäufer“, umschreibt er. „Ich verkaufe die deutsche Reitlehre. Das ,Besser reiten’, immer im Sinne des Pferdes. Natural Horsemanship ist die Devise. Und ich möchte eine Brücke schlagen von der Basis zu der Faszination für den Spitzensport.“

Dafür ist er viele Tage im Jahr unterwegs. Sein Training ist für alle offen, von der Basis bis in die höchsten Klassen. „Ich lebe das, was ich tue, 24 Stunden am Tag.“ 2019 ist er für sein Engagement im Pferdesport mit dem Reiterkreuz in Gold ausgezeichnet worden. Schon in seiner Kindheit, Jugendzeit und jungem Erwachsenenalter ist Christoph Hess, Sohn eines Juristen und einer Familienberaterin mit zwei Geschwistern, viel herumgekommen: Geboren in Delmenhorst, aufgewachsen in Hannover, Grundschule in Cuxhaven, Oberschule in Gehrden bei Hannover und Göttingen, Bundeswehrsportschule in Warendorf und schließlich Lehramt-Studium in Hannover und Göttingen sowie das Diplom-Pädagogik-Studium in Oldenburg.

Reiterjahre

In Cuxhaven kam er als Achtjähriger das erste Mal mit Pferden in Berührung, weil der Nachbar Besitzer eines Pferdes war. „Das erste Mal auf einem Pferd zu sitzen, hat eingeschlagen wie ein Blitz“, erinnert er sich. „Ich war von einer Sekunde zur nächsten ,on fire‘.“ Hess hatte seine Leidenschaft gefunden, vor allem in der Dressur und Vielseitigkeit, er ritt bis zum mittleren Niveau. Während seiner Oberschulzeit in Hannover übernahm er unter anderem bei der Pferdezüchterfamilie Bade – Dr. Burchard Bade war 30 Jahre lang Landstallmeister im Landgestüt Celle – das Anreiten junger Pferde. In Göttingen ritt er an der Universitätsschule bei Werner Stemmwedel, er legte seine Amateurreitlehrer- und 1979 die Meisterprüfung gemeinsam mit Karsten Huck ab. „Das war mein zweiter Meisterlehrgang, den ersten hatte ich abgebrochen, weil sich herausstellte, dass ich nicht gut genug vorbereitet war. Zu dieser Zeit hatte ich ziemlich viel um die Ohren. Es war genau richtig, einen zweiten Anlauf zu nehmen.“

Erbstück als Prophezeiung

Hess ritt profimäßig bei Vielseitigkeits-Olympiareiter Horst Karsten – „er hat mich sehr geprägt“. Seine Großmutter sagte immer, es sei eine göttliche Fügung, dass er nach Warendorf und zu den Pferden gekommen sei. Denn zu seiner Konfirmation hat Christoph Hess von ihr als ältester Enkel ein altes Familienerbstück bekommen, es war ein altes Wappen der Warendorfer Familie Pagenstecher – Vorfahren mütterlicherseits, die politisch und in der evangelischen Kirche aktiv waren. „Page“ bedeutet soviel wie Pferd und „Stecher“ Gehege bzw. Koppel.

Doch nicht immer lief in seinem Leben alles wie am Schnürchen, erzählt Christoph Hess ehrlich und frei heraus. Zwei große Niederlagen hat er in seiner Laufbahn erleben müssen. Die erste war 2004, als er die Führung des Bundesleistungszentrums nach 20 Jahren abgeben musste. „Ich habe auf zu vielen Hochzeiten gleichzeitig getanzt. Mit der Abteilung Ausbildung und den Persönlichen Mitgliedern habe ich das nicht mehr alles unter einen Hut bekommen. Aber es ist mir sehr schwer gefallen“, erinnert er sich.

Große Ehre: Auf den Bundeschampionaten 2019 bekam Christoph Hess aus den Händen von FN-Vizepräsident Theo Leuchten und FN-Generalsekretär Soenke Lauterbach das Reiterkreuz in Gold verliehen. Foto: Wulf Rohwedder/FN-Archiv

Hinfallen, aufstehen

Die zweite Niederlage erlebte Hess noch im selben Jahr, Stichwort Olympische Spiele in Athen und Bettina Hoy. Die Vielseitigkeitsreiterin gewann Doppelgold, jedoch wurden ihr die Medaillen im Nachhinein ab aberkannt, weil sie die Startlinie vor dem abschließenden Springen zweimal überquert hatte. Die Ground Jury entschied auf einen Regelverstoß Hoys, trotz der Tatsache, dass die Zeitmessung nicht einwandfrei funktioniert und die Reiterin keinen Vorteil hatte. Christoph Hess war Vorsitzender der Jury und somit maßgeblich an der Entscheidung beteiligt. Es folgten nervenaufreibende Diskussionen, aber auch die dritte Instanz, der CAS, entschied gegen Hoy, es blieb bei den nachträglichen Zeitfehlern, die Deutschen rutschten aus den Medaillenrängen.

Tage seiner größten Niederlage wie er selbst sagt: Bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen ist Hess Vorsitzender der Ground Jury, welche Bettina Hoy Doppelgold aberkennt.

Dynamisch, voller Energie und mit einem Lächeln auf den Lippen, so kennt man Christoph Hess. Das kommentierte Richten geht auf ihn zurück.

„Das war eine echt bescheidene Zeit“, gibt Hess unumwunden zu. „Und gleichzeitig meine Lebenslektion. Ich musste mich entscheiden – entweder daran zerbrechen oder versuchen, es aktiv anzugehen. Ich habe mich für Letzteres entschieden. Ich habe mit allen Beteiligten gesprochen, allen voran mit Bettina und ihrem damaligen Mann Andrew. So bin ich nicht zur ,Persona non grata‘ geworden. Ich musste lernen, diese Niederlage in meinem Leben hinzunehmen und gestärkt daraus hervorzugehen. Es war ein massiver Einschnitt, den ich als Chance sehen musste.“ Vier Jahre später war Christoph Hess beim Empfang der Deutschen nach den Olympischen Spielen in Hongkong dabei, Doppelolympiasieger Hinrich Romeike sagte in seiner Ansprache: „Das Doppelgold haben wir für dich geholt, Christoph!“ Ein versöhnliches Ende eines unschönen Kapitels.

Etwas vom Gaspedal

Mit 70 Jahren sei es nun an der Zeit, etwas zurückzutreten, sagt Christoph Hess, und er denkt dabei vor allem an seine Funktionen bei der FEI, dort müsse es Fluktuation geben. „Ich konnte meine Leidenschaft immer mit meinem Beruf verbinden. Dafür bin ich sehr dankbar. Man muss nur aufpassen, dass man rechtzeitig die Kurve bekommt. Man darf nicht selbstverliebt werden und sollte sich nicht so wichtig nehmen. Meine Frau ist da ein sehr guter Ratgeber.“ Als Ausbildungsbotschafter bleibt Christoph Hess aber dabei, es gibt etliche Anfragen für Lehrgänge und Seminare. Selbst in den Sattel steigt er momentan nicht – „Ich werde meinem eigenen Anspruch gerade nicht gerecht, ich habe einfach zu wenig Zeit.“ Er spielt Golf und veranstaltet zweimal im Jahr die Talkrunde „Warendörfer Köpfe“ über Menschen aus der Reiterstadt.

Auf die Frage, was ihn an Pferden fasziniert, bleibt Christoph Hess erst einmal still, er überlegt, geht in sich. „Reiten ist Respekt, sich gegenseitig respektieren.“ Sein Satz klingt markant, weil er „Reschpekt“ und „reschpektieren“ sagt, ein kurzer dialektaler Einschlag. Er umschreibt: „Die Natur des Pferdes fasziniert mich unglaublich, ihre Gutmütigkeit bei ihrer Kraft und Größe. Der eigene Wille. Es ist eine persönliche Zuneigung und gleichzeitig die Herausforderung, weil ich das Bedürfnis habe, ihnen etwas beizubringen. Pferde sind so, wie der liebe Gott sie geschaffen hat und sie erden mich in unserer digitalen Welt. Es geht darum, eine Partnerschaft einzugehen – das versuche ich im Unterricht zu vermitteln. Ich möchte in die Persönlichkeit eines Pferdes eintauchen. Das ist meine Tagesaufgabe oder eher meine Lebensherausforderung.“

Laura Becker

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