Vorheriger Artikel

Ausgabe 11-12/2016
Kalender 2017

Nächster Artikel

Ausgabe 11-12/2016
Neuerscheinung im FNverlag: Hannoveraner

Serie: Wieso, weshalb, warum – wer nicht fragt bleibt dumm, Teil 10

Gebiss oder gebisslos?

Pferdefreundliches Reiten ist eine Selbstverständlichkeit – oder sollte es zumindest sein. Für immer mehr Menschen gehört dazu heute auch der Verzicht auf ein Trensengebiss. Aber ist „oben ohne“ denn tatsächlich immer gleich auch „pferdefreundlich“? Wovon hängt pferdefreund­liches Reiten ab? Und wozu sind Gebisse überhaupt da? Dr. Britta Schöffmann wagt sich im zehnten Teil ihrer Lehrserie zwischen die Stühle.

Die Französin Alizée Froment zelebriert mit ihrem Wallach Mistral du Coussoul das gebisslose Reiten und präsentiert sich derzeit im Schauprogramm vieler Turniere. Foto: Arnd Bronkhorst

Gebissloses Reiten ist im Trend. Das zeigt bereits der Blick ins Internet, wo zum Stichwort „Trensengebisse“ gerade mal knapp 34.000 Einträge via Google ins heimische Wohnzimmer flattern, zum Stichwort „gebisslose Zäumung“ bereits 38.000 und zu „gebisslos reiten“ gar 71.000! In Videos und Kommentaren zu gebisslosem Reiten werden dabei meist die Begriffe „gewaltlos“, „ohne jegliche Kraft“, „aus Liebe zum Pferd“ oder gar „Glück“ verwendet. Gern wird von vehementen Vertretern der Gebisslosigkeit dabei der Eindruck vermittelt oder auch offen ausgesprochen, das Reiten mit Gebiss sei Tierquälerei und würde dem Pferd Schmerzen bereiten. Als „Beweis“ wird dann immer wieder die alte Studie eines amerikanischen Tierarztes herangeführt, der mit seinen Aussagen in dieser Form allerdings bisher eher alleine dasteht. Andere wissenschaftliche Studien sind zu anderen Ergebnissen gekommen. Der alte Spruch ,Fünf Experten, sechs Meinungen‘ scheint also auch hier nicht ganz verkehrt zu sein.

Nur Freizeitreiter?

Auf der anderen Seite schütteln die meisten eher klassisch/sportlich orientierten Reiter den Kopf, wenn andere auf Sidepull, Glücksrad, Halsring & Co. unterwegs sind. „Nur was für Freizeitreiter und Hobbyjuckler“, heißt es dann schnell abwertend. Und ein kritischer Blick auf manche so gerittener Pferde zeigt tatsächlich oft suboptimale Bilder von auseinandergefallenen, auf der Vorhand laufenden und spärlich bemuskelten Vierbeinern mit mehr oder weniger durchhängenden Rücken. Doch schon stehen die Befürworter von Gebisslos wieder auf dem Plan und führen Beispiele wie Uta Gräf, Alizée Froment und andere ins Feld – Reiter, deren Pferde ohne Gebiss, teils gar auf Halsring, anspruchsvollste Grand-Prix-Lektionen scheinbar mühelos präsentieren. Der Beweis, dass Gebisse also tatsächlich überflüssig sind? Sicher nicht, denn das, was hier gezeigt wird, ist Dressurreiten auf höchstem Niveau, ein Niveau, das sich die Reiter mit ihren Pferden über Jahre erarbeitet haben – und zwar mit Gebiss.

Zugegeben, es gab tatsächlich Zeiten, als Gebisse mit Absicht dazu da waren, ein Pferd mit Gewalt zu beherrschen. Gedanken über Tierschutz, Lernverhalten von Tieren und ähnliches waren in grauer Vorzeit noch nicht en vogue. Schaut man sich abenteuerlich anmutende Gebisskonstruktionen aus alten Epochen an, kann man kaum glauben, wie so etwas überhaupt ins Pferdemaul gepasst hat. Aber das ist Jahrhunderte her. Mit der Entwicklung der Reiterei hin zur Kunst und mit der damit verbundenen systematischen Formulierung von Lehrkonzepten und -methoden entwickelten sich mit der Zeit eine feinere reiterliche Einwirkung, die Erkenntnis des Zusammenwirkens von Zügel-, Schenkel- und Gewichtshilfen sowie weichere und maulfreundlichere Gebisse. Und auch die aktuelle Wissenschaft beschäftigt sich regelmäßig mit unterschiedlichen Gebissformen im Pferdemaul, untersucht Lage, Druckverhalten, Material und Wirkung und gibt so Herstellern und Reitern wichtige Informationen an die Hand.

 

Aufs Wie kommt’s an

Ob ein Gebiss beim Reiten verwendet wird oder nicht hängt zum einen von der Beherrschung der Reiterhilfen ab, zum anderen aber auch von Faktoren wie Verwendungszweck, Disziplin sowie Exterieur und Temperament eines Pferdes. Reiterhilfen, ganz gleich ob mit oder ohne Gebiss, sind immer nur so fein, effektiv und gut wie der Reiter. So hat die auf Biomechanik spezialisierte US-amerikanische Professorin Hilary Clayton – in einer ebenfalls älteren Studie – bei Druckmessungen zum Bespiel festgestellt, dass der Nasenriemen einer gebisslosen Zäumung doppelt so viel Druck auf den empfindlichen Nasenrücken eines Pferdes ausüben kann wie ein (fehlerhaft) eng verschnallter Nasenriemen bei Verwendung mit Gebiss. Es kommt, wenn es um Pferdefreundlichkeit geht, also nicht unbedingt darauf an, ob, sondern wie mit oder ohne Gebiss geritten wird.

Je nach Art der gebisslosen Zäumung entsteht bei Zügelanzug – und sei er auch nur impulshaft – nämlich nicht nur Druck auf den (ohnehin empfindlichen) Nasenrücken, sondern auch auf die unteren Kieferäste und über Hebelwirkung auch aufs Genick des Pferdes. Sensible Kopfnerven, die auch bei falsch oder zu eng verschnallten Reithalftern beim Reiten mit Gebiss in Mitleidenschaft gezogen werden, könnten auch bei gebissloser Zäumung und unsachgemäßer Einwirkung schmerzhaft gequetscht werden. Das gilt vor allem fürs Reiten auf Knotenhalfter, wie es von manchen praktiziert und propagiert wird. Bestes bzw. traurigstes Beispiel einer extrem scharfen gebisslosen Zäumung ist die klassische iberische Serreta, eine Art Kappzaum mit gezähntem, oft nur notdürftig ummanteltem, schmalem Nasenbügel, der zu tiefen Wunden auf dem Nasenrücken führen kann. Und selbst die Verwendung eines Halsrings, dem vermeintlichen Beweis absoluten Vertrauens zwischen Mensch und Pferd, kann bei falscher Einwirkung problematisch sein. Denn an der unteren Halsseite führen Drosselvene sowie Luft- und Speiseröhre entlang, die bei zu starker Einwirkung ebenso gequetscht werden können wie der Kehlkopf des Pferdes bei ruckartigem und zu hohem Einsatz des Rings.

Überhaupt ist „zu“ ein wichtiges Wörtchen, wenn es um die Frage der Pferdefreundlichkeit geht, ganz gleich ob mit oder ohne Gebiss. Zu viel, zu spät, zu früh, zu wenig, zu hart – das ist es, was schaden kann. In erster Linie ist ja es die Reiterhand, die die Zügeleinwirkung verrichtet und darüber bestimmt, ob diese wohldosiert und damit perfekt ist oder eben nicht. Es lässt sich ein wenig mit einem Messer vergleichen: In der Hand eines Chirurgen kann es Leben retten, in der eines Holzschnitzers ein Kunstwerk hervorbringen, in der eines Fleischers Nahrung portionieren – und in der eines Mörders Leben nehmen. Nicht das Messer ist dafür verantwortlich, sondern der, der es führt.

Vielseitigkeitsreiterin Carmen Thiemann, Mitarbeiterin von Ingrid Klimke, sammelte auch schon Erfahrungen mit dem Halsring. Foto: Jacques Toffi

Wichtig für Anlehnung

Und um die Diskussion über „mit“ oder „ohne“ noch ein wenig komplizierter zu machen, muss man sich auch die Frage stellen, was man mit seinem Pferd überhaupt tun möchte.  Wer in erster Linie ab und zu gemütlich durch Feld und Wald reiten, gerittene Gelassenheitsprüfungen absolvieren oder zirzensische Showeinlagen präsentieren möchte, für den ist es nicht unbedingt wichtig, ob sich sein Pferd dabei mit gewölbtem Hals und positiv gespannter Oberlinie an die Hand heranschließen lässt oder nicht. Hauptsache das Pferd ist brav und „Lenkung und Bremse“ funktionieren.

Wer aber ein wenig mehr in Richtung Dressur und Muskelaufbau arbeiten will, der wird merken, dass „Anlehnung“ und das Herantreten ans Gebiss, wie es in der klassischen Ausbildung zum Grundgerüst gehört, ein wichtiger Baustein ist beim Erarbeiten von Schwung und Versammlung mit dem Ziel der Entlastung der Vorhand, der Entwicklung von Federkraft und des Erreichens von Durchlässigkeit. „Das geht auch ohne Gebiss“, argumentieren die Gebiss-Gegner. Schaut man sich aber die meisten der ausschließlich so gerittenen Pferde an, entsprechen sie nicht dem Bild eines geschlossenen, federnden und über den Rücken schwingenden Athleten. Ausnahmen a la Gräf, Froment und andere sind immer das Ergebnis einer guten Ausbildung und eines regelmäßigen Trainings mit Gebiss, da die Einwirkung übers Gebiss viel direkter und umgehender ist, vor allem auch wenn es um Nachgiebigkeit im Genick und um Stellung – und damit letztlich auch um die so wichtige korrekte Biegearbeit – geht.

Dabei heißt „mit Gebiss“ arbeiten nicht, dass darüber der Kopf des Pferdes in eine bestimmte Position gezogen werden soll und das Pferd diese dann nur einnimmt, weil es sonst Schmerzen im Maul hätte. Im Gegenteil: Sobald Schmerzen im Spiel sind, läuft in der Ausbildung und beim Reiten was falsch. Es geht vielmehr darum, dass das Pferd das Gebiss akzeptiert und lernt, die darüber gegebenen möglichst feinen Signale der Zügelfäuste zu verstehen und umgehend und absolut zwanglos – letzteres im wahrsten Sinne des Wortes! – umzusetzen. Schlimme Bilder von aufgerissenen Mäulern, blauen Zungen, Maulverletzungen oder abenteuerlichen Mehrfach-Gebiss-Kon-struktionen sind kein Argument gegen die Verwendung von Gebissen, sondern ein Argument gegen schlechtes und grobes Reiten. Das zufriedene Maul des Pferdes ist nämlich eine der Grundforderungen seriöser Ausbildung, wobei sich die Zufriedenheit weder im unbeweglichen und „toten“ Maul noch in wildem Schäumen oder offenem Kauen darstellt, sondern im geschlossenen, leicht „vor sich hin mümmelnden“ Maul mit leichtem Speichelrand an den Lippen.

Gebiss muss passen

Ob sich ein Pferd mit seinem Gebiss wohl fühlt, liegt allerdings nicht nur an der reiterlichen Einwirkung, sondern auch den anatomischen Besonderheiten eines jeden Pferdeschädels. Großer oder kleiner Kopf, kurze oder lange Maulspalte, fleischige oder eher schlanke Zunge, flaches oder gewölbtes Gaumendach, diese und ähnliche äußere Gegebenheiten können dazu führen, dass das eine Gebiss fürs eine Pferd perfekt, fürs andere aber total ungeeignet ist. Unterschiedliche Gebissformen, -größen und -dicken tragen dem Rechnung. Letztlich ist es nicht der Reiter, sondern das Pferd, das darüber bestimmt, welches Gebiss es sein soll. Das Gleiche gilt übrigens auch für die unterschiedlichen gebisslosen Zäumungen.

Die Autorin Dr. Britta Schöffmann – heutzutage immer mit Helm unterwegs – weiß, wovon sie spricht, hat sie doch schon vor Jahren hin und wieder, wie hier auf ihrem Grand-Prix-Pferd La Picolina, aus Spaß auf Trense und Sattel verzichtet. Foto: Alois Müller

Schöne Ergänzung

Man ahnt, das Thema ist vielschichtig. Es ist auf jeden Fall zu begrüßen, gebissloses Reiten als eine schöne Ergänzung zu sehen. In diesem Zusammenhang machen auch Überlegungen, gebisslose Prüfungsangebote eventuell zunächst in der WBO zu verankern, sowie auch die jüngsten Pilotveranstaltungen durchaus Sinn. Wer in der Lage ist, gebisslos gewisse reiterliche Anforderungen harmonisch zu präsentieren, ist auf einem guten Weg. Er sollte aber nicht glauben, auf diesem Weg sein Pferd zu höchstem sportlichen Dressur-Niveau ausbilden zu können. So wie die Liebe zur Musik allein noch keinen guten Musiker macht, so macht die Pferdeliebe allein noch keinen pferdefreundlichen Reiter und auch kein weit ausgebildetes Pferd. Vielmehr gehören dazu Begabung, Hingabe, Fleiß, Wissen, Können – und jahrelange ernsthafte Arbeit.

Vorheriger Artikel

Ausgabe 11-12/2016
Kalender 2017

Nächster Artikel

Ausgabe 11-12/2016
Neuerscheinung im FNverlag: Hannoveraner