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UNESCO Immaterielles Kulturerbe: Willibaldritt

Ein Segen für Ross und Reiter

In Jesenwang pflegt man ein in Europa einzigartiges Brauchtum: Frauen und Männer reiten mitten durch die Wallfahrtskirche St. Willibald. Die Pferdesegnung aus Bayern gehört seit Anfang des Jahres zum immateriellen Kulturerbe der deutschen UNESCO.

Mensch und Tier sind gesegnet: Nach dem Umzug sammeln sich die Teilnehmer unmittelbar neben der Wallfahrtskirche auf einer großen Wiese. Fotos: Cornelia Höchstetter

Pfarrer Wolfgang Huber steht auf einem Holzpodest vor dem Nordportal der St.-Willibald-Kirche und hebt das Aspergill, den Sprenger für das Weihwasser. So bespritzt er von oben vorsichtig die drei Kaltblüter mit ihren Reitern. Der Pfarrer passt genau auf, dass das geweihte Wasser den Pferden nicht ins Auge kommt oder sie sich gar erschrecken. Keinesfalls sollen sie ins Zögern kommen: Es ist besser, wenn die Pferde nah beieinanderbleiben und sich so dank des Herdentriebs von der Sonne in das dunkle Innere der Kirche hineinwagen. Die Reiter ziehen die Köpfe ein, um sich nicht am gotischen Torbogen zu stoßen. Kurz sind noch die hellen Schweife mit den eingeflochtenen Rosen und bunten Bändern zu sehen, dann hört man nur noch die Hufeisen auf dem Holzboden.

Jahrhunderte alte Tradition

Das ist der Willibaldritt in Jesenwang, etwa 50 Kilometer westlich von München. Etwa 220 Pferdefreunde holen sich beim Pfarrer den Einzelsegen für ihre Vierbeiner und deren Gesundheit ab. Wie die geschmückten Reiter und Pferde in die Kirche und wieder auf der anderen Seite herausreiten, wollen etwa 4.000 Zuschauer sehen. Feuerwehrleute halten Absperrseile, damit die Besucher nicht zu nahe an die Tiere kommen. Nach zwei Coronajahren sind im Landkreis Fürstenfeldbruck endlich wieder alle auf den Beinen, um zum 300. Mal das Gelöbnis zu erneuern: Weil ab 1709 eine tödliche Tierseuche in der Umgebung grassierte, kamen die Jesenwanger mit ihren Tieren in die Kirche und baten den Heiligen Willibald um Schutz vor der Erkrankung. Der Überlieferung zufolge wurde Jesenwang von der Seuche verschont. Also gelobten die Bauern, jedes Jahr um den 7. Juli herum, den Todestag des Heiligen Willibald, eine Wallfahrt als Dank abzuhalten. 

Gewürdigt wird der heilige Sankt Willibald

„Für den Willibaldritt ist viel Engagement und Ehrenamt nötig – davon lebt unsere Gesellschaft, und das vermittelt Zusammenhalt.“

Pfarrer Huber aus Jesenwang

 Der Ritt durch die Kirche ist eine Besonderheit des Willibaldritt und eine Vertrauensleistung zwischen Pferd und Reiter. Foto: Wolfgang Pollich/Foto Gruppe Mammendorf

Bunt und aufwändig sind die Pferde geschmückt.

Ausgezeichnet!

Zeitgleich mit den Trakehner Pferden (siehe PM-Forum Ausgabe 09/2022) wurde dieser Brauchtumsritt im Frühjahr 2022 als Immaterielles Kulturerbe von der deutschen UNESCO-Kommission anerkannt. Die Begründung: „Die Organisation des Willibaldritts wird insbesondere von lokal ansässigen Familien geprägt. Diese vermitteln das spezifische Wissen und Können auch an die jüngeren Generationen. Dabei sind sowohl die Weitergabe der Fertigkeiten im Umgang mit Pferden als auch die nötigen Kenntnisse der Organisation des Umzugs wichtig… Der Willibaldritt steht Interessierten grundsätzlich offen.“

Bunt und vielfältig

„Das Bunte zeichnet uns aus“, erklärt der Vorsitzende des Freundeskreises St. Willibald, Martin Schmid, wohlwissend, dass aus dem Brauchtumsritt längst mehr geworden ist: Nostalgie, aber auch Identität mit dem Ort, mit den ansässigen Reitvereinen, Freundesgruppen, familiären Beziehungen, aber auch Unterhaltung und Freizeitaktivität. „Wir haben deshalb keine strengen Regeln wie etwa die Bad Tölzer: Bei deren Leonhardifahrt zum Beispiel sind nur Kutschen mit Eisenrädern zugelassen. Wir wollen bewusst die Vielfalt und deshalb kommen auch so viele zu uns. Keiner wird ausgeschlossen.“ Der Einzugskreis der Teilnehmer geht bis ins Werdenfelser Land bei Murnau, bis nach Freising, Landshut, Eichstätt und Neuenmarkt in der Oberpfalz – etwa gut das halbe Bayernland.

Gemeinsamkeit: Vier Hufe

Beim Umzug durch den Ort und später beim Durchritt der Kirche bestaunen die Zuschauer die Vielfalt auf vier Hufen: 900 Kilogramm schwere Comtois Pferde vor einem geschmückten Wagen, 40 Reiter in grünen T-Shirts vom Ländlichen Reit- und Fahrverein Moorenweis auf ihren Warmblütern, Haflinger unter sämtlichen Sätteln – Dressur, Springen, Western. Friesenpferde mit Reitern in Kostümen des Kaisers Franz und seiner Sissi, Süddeutsche Kaltblüter mit blumenverziertem Langhaar, eine Schwere Warmblutstute mit Fohlen, ein Viererzug mit schneeweißen Percherons, Männer mit Gamsbart am Hut und kurzen Lederhosen im Sattel ihrer Kaltblüter, Dirndlreiterinnen mit Schwarzwälder Füchsen, Miniponys im Spanischen Schritt an der Hand, Shettys mit Hufschuhen, P.R.E.s unter fellbezogenen Barocksätteln, Paint Horses, Reiter mit Cowboyhüten, mit Reithelmen oder wehendem Haar, ein kleiner Junge im Turnierdress auf dem Rücken eines Warmblut-Dressurprofessors, Tigerscheckenshettys vor der Kutsche, Islandpferde, Hunde, Rinder, Esel. Wie aus einer Enzyklopädie der „Pferdeleute aus dem 21. Jahrhundert.“

Veranstaltungsprofis

Der Willibaldritt bringt sie alle zusammen. Wie in einer großen Herde sind die Pferde erstaunlich gelassen. Die Kaltblutpferde vor den Kutschen sind echte Veranstaltungsprofis, die vielen Reitpferde sind vertraut mit ihren Menschen. Es sind Pferde dabei, die jedes Jahr den Ritt mitmachen. Der ein oder andere, der zum ersten Mal dabei ist, wird geführt anstatt geritten. Einige Teilnehmer haben in den beiden Coronajahren „geübt“ und durften mit den Pferden ohne Publikum und Umzug den Segen erhalten und durch die Kirche reiten. „Wir sprechen mit allen Teilnehmern vorher und sagen, dass nur stressresistente Pferde mitgehen dürfen – und dann bauen wir auf die Selbstkontrolle der Reiter und Fahrer“, erklärt Martin Schmid. Nach Unfällen bei Karnevalsumzügen ist der Pferdeeinsatz bei Festumzügen in die Diskussion geraten. Ist es tiergerecht oder nicht? Die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) hat vor zwei Jahren ein Positionspapier zum Einsatz von Pferden zur Brauchtumspflege herausgegeben: „Nach der Grundphilosophie der FN ist die Nutzung von Pferden und Ponys im Sinne einer tiergerechten und fachkundigen Umsetzung uneingeschränkt möglich. Wertschätzung gebührt auch den zahlreichen ehrenamtlich engagierten Reitern und Fahrern mit ihren Pferden, die diese verantwortungsbewusst auf gesellschaftliche Einsätze vorbereiten und sie dort präsentieren.“

Historisches Schauspiel

Die ersten drei Kaltblüter kommen schon wieder aus der Kirche raus – ihre Reiter hatten sich im Kircheninneren vor dem Altar aus der Spätrenaissance bekreuzigt. Alle drei gehören zur sogenannten Wallfahrergruppe: Leo Schmid hat beim Umzug durch den Ort das mannsgroße Wallfahrerkreuz getragen. Seine Stute Bettie kennt ihre Aufgabe. Noch drei feste Figuren gibt es unter den Reitern: die drei Heiligen – Willibald in seinem Bischofsgewand, seine Schwester, die Äbtissin Walburga, und der Bruder, Mönch Wunibald. Weil die Thematik mit den Seuchen aktueller denn je ist, musste die Besetzung wegen Corona und wegen kranker Pferde drei Tage vor dem Umzug noch einmal neu gewürfelt werden: Martin Schmid ist als Willibald eingesprungen – „Ich bin ja ein Nicht-Reiter, aber wenn man sowas machen darf, ist das einmalig“, erzählt er. Volles Vertrauen hat er in den braven Friesen, ein erfahrenes Willibald-Pferd, das von seiner Besitzerin Julia Wisura geführt wird.

Der Willibald ist eine von drei festen Figuren beim Umzug.

Blick in die Kirche.

Vom kleinen Shetlandpony vor der Kutsche… 

Durch den Ort ziehen die Kutschen, Reiter und anderen Teilnehmer zur Wallfahrtskirche.

…bis hin zu kalibrigen Percherons vor der Kutsche – der Willibaldritt ist auch was die Vierbeiner angeht bunt und vielseitig.

Pfarrer reitet mit

Seit 2004 ist Pfarrer Wolfgang Huber beim Willibaldritt dabei. Zwar ist er Nicht-Reiter, setzte sich aber immer tapfer in den Sattel eines zuverlässigen Pferdes und ließ sich führen. Nur dieses Jahr sitzt er im Wagen der Ministranten. „Aber man sieht schon besser, wenn man im Sattel sitzt und wenn frontal alles auf einen zukommt“, findet er. „Teil des ganz Großen zu sein, ist berührend. Es engagieren sich so viele Menschen für die Prozession“. Der Pfarrer hält eine spontane Predigt: „Davon lebt unsere Gesellschaft, vom Ehrenamt jenseits der bezahlten Tätigkeiten. Und das ist so unglaublich wichtig, weil es Zusammenhalt vermittelt“. Was er noch spürt: „Den Menschen ist der Einzelsegen wichtig. Das Bedürfnis nach Schutz und der Glaube, dass der Segen schützt.“

Stolz auf die Pferde

Für Simone Mayr vom Reitstall Mayr in Jesenwang spielt der Segen eine wichtige Rolle. „Jeder Reiter hat ja das Wohl seines Pferdes im Sinn. Der Segen durch die Kirche macht den Ritt schon besonders“, findet sie. Selbst saß sie schon als Kind im Ponysattel, von den Eltern geführt. Inzwischen hat die 43-Jährige den Pensionsstall der Eltern übernommen: „Unser Stall stellt traditionell die drei Heiligen“, erzählt sie. „Bis vor einigen Jahren bin ich als Walburga mit meinem Dressurpferd mitgeritten. Das war einmalig schön, in welcher Harmonie mein Pferd die Prozession mitmachte. Der hat das richtig genossen, im Mittelpunkt zu stehen.“ Dieses Jahr fahren zum ersten Mal ihre Kinder, sieben und zehn Jahre alt, auf der Kutsche mit. So geht der Willibaldritt von Generation zu Generation.

Die bunte Schleife erinnert an die Teilnahme.

Aufgabe mit Prestige: Leo Schmid trägt das Wallfahrtkreuz, seine Stute Betty kennt das schon und bleibt ganz cool.

Geschichten der Teilnehmer

Manche Teilnehmer nehmen ihre eigene Geschichte auf den Umzug mit. So Eva Palm, die mit ihrer 26-jährigen Stute Felice mitreitet. Dank Felice, und sie war anfangs nicht einfach, sei sie nach einem Reitunfall überhaupt wieder zurück in den Sattel gekommen. Felice war ihre Reitbeteiligung, die Stute gehörte einer guten Freundin. Als die Freundin eine Krebsdiagnose erhielt, versprach Eva Palm, sich um Felice zu kümmern. Das Versprechen hat sie gehalten. Zeit für Gespräche mit den Reitern und Fahrern haben Zuschauer am besten beim Aufstellen des Umzuges, wenn sich alle in der Ortsmitte nach einem ausgetüftelten Plan in den verschiedenen Ortsstraßen sammeln. Um die nächste Straßenecke kommt eine Fußtruppe auf der Suche nach ihrer Kutsche. Es sind die „Allerscheenan“, passend in Lederhosen und Trachten gekleidet und in bester Laune. Im Jahr 2019, so erzählen sie, hatten sie auf ihrem Wagen einen besonderen Gast: den Filmregisseur Josef Vilsmaier. Dieses Jahr sitzen in den insgesamt 14 angespannten Wagen Lokalpolitiker und andere wichtige Menschen, die alle fröhlich während des Umzugs zu den Zuschauern winken, die am Straßenrand stehen.

Feste feiern

Zur Kirche ist es ein gutes Stück. Erst als alle gerittenen Pferde einmal durch die Kirche gegangen sind, löst sich die letzte Anspannung. Die Reiter sind stolz, dass ihre Pferde vertrauensvoll mit ihnen erst durch den Ort, begleitet von den Musikgruppen, dann durch die Kirche gegangen sind, während die Glocken im Turm läuteten. Auf der Wiese vor der Kirche lassen manche noch ihre Pferde an der Hand grasen. Die Kutschpferde sind längst ausgespannt. An den Buden stehen die Menschen Schlange und warten geduldig auf Kaffee, Kuchen, Bier und Wurst. Die Maß Bier kostet sieben Euro – die Hälfte von einer Maß Bier auf dem Oktoberfest 2022. Willibald-Brezn gibt’s, Eis vom Bauernhof, die Tische am Kastanienhain sind voll besetzt, Kinder rennen um die Bierbänke, die Musik spielt, die Willibaldkirche strahlt weiß unter blauem Himmel. Echte bayerische Kultur.

Cornelia Höchstetter

Willibaldritt im nächsten Jahr

Wer im nächsten Jahr dabei sein möchte, sollte sich das Wochenende um den 7. Juli freihalten. Wer mitreiten möchte, wendet sich am besten an den Freundeskreis, direkt an Martin Schmid. www.willibaldritt-jesenwang.de

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