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Persönlichkeiten der Pferdeszene: Dr. Juliette Mallison

Distanz ganz nah

Mit ihrer unverwechselbaren Art und ihrem ganzen Engagement setzt sich die Veterinärin Dr. Juliette Mallison für Pferde ein. Ihr Metier und ihr Herz ist das Distanzreiten. Ein Porträt. Und ein Plädoyer für den Distanzsport.

Dr. Juliette Mallison in ihrem Wohnzimmer in Göttingen. Alle Fotos: Jacques Toffi

Zugegebenermaßen ist es wohl so, dass die meisten das Distanzreiten nur als Disziplin von den Weltreiterspielen kennen; das Reglement überblickt man nur oberflächlich. Hört man aber der Göttinger Tierärztin Dr. Juliette Mallison zu, kommt man nicht umhin, fasziniert zu sein von diesem Sport, der Pferd und Reiter so viel mehr abverlangt als nur einen langen Atem. Die 74-jährige gebürtige Britin kennt den nationalen und internationalen Distanzsport von vielen Seiten: als Reiterin, (Team-)Tierärztin, Richterin, Präsidentin des Vereins Deutscher Distanzreiter (VDD), Steward und Chef d’Equipe. Und Juliette Mallison kennt man mit grauem Kurzhaarschnitt, praktischer Kleidung, ihrer Lesebrille, die weit unten auf der Nase sitzt, und einem verschmitzten Lächeln.

Ein Plädoyer

Mit einem schon fast verblassten englischen Akzent umschreibt sie ihren geliebten Sport: „Wann hat man sonst die Gelegenheit, so durch die Natur zu reiten wie im Distanzsport? Man kann diese Disziplin überall auf der Welt betreiben, jedes Land hat seine Spezialität. Die Pferde müssen lernen, auf jedem Boden zu gehen und die Taktik ist das Wichtigste. Im Training muss auch ein Distanzpferd gymnastiziert werden, um es gesund zu erhalten. Davon abgesehen spart ein Pferd, das man locker und rund durch eine Wendung reiten kann, auch Zeit gegenüber einem Pferd, das nur steif und gerade gewendet werden kann. Training – dazu gehören auch Fütterung und Haltung – bedeutet Unfallprävention, Kondition aufbauen und Gesunderhaltung. Man muss sein Pferd in- und auswendig kennen, eine Symbiose eingehen. Im Wettkampf muss man mit dem Terrain und Tempo spielen, sich den Wetterbedingungen anpassen, die Energie des Pferdes optimal auf die geforderten Schleifen einteilen und das oberste Gebot ist immer: Im Ziel mit einem gesunden, fitten Pferd ankommen!“

Auf dem Turnier mit Winkler

Juliette Mallison empfängt auf der Terrasse ihres Hauses, ein zweites Frühstück mit einer „Early Cup of Coffee“ und selbstgemachter Orangen- und Pflaumenmarmelade. Im Hintergrund läuft klassische Musik und zahlreiche Standuhren ticken. Seit über 40 Jahren lebt sie mit ihrem Mann schon in Göttingen. Der Garten am Hang erblüht in voller Pracht – das Resultat der letzten Monate als Corona die 74-Jährige, die sonst das ganze Jahr über unterwegs ist, zwang, zu Hause zu bleiben. Juliette Mallisons Leidenschaft für das Distanzreiten ist in ihrer Familie und über die Vielseitigkeit entstanden. Geboren wurde sie 1946 in Malmesbury Wiltshire in Großbritannien. Sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater waren Reiter. Die kleine Juliette begann mit fünf Jahren zu reiten. Weil ihr Vater Offizier war, ist die Familie häufig umgezogen. Von 1952 bis 1954 lebten sie in Bad Oeynhausen und Rheindahlen. „Dort war ich auf einem Turnier, auf dem auch Hans Günter Winkler geritten ist“, erzählt sie und ihre Augen leuchten bei dieser Erinnerung. „Da war ich soooo stolz, ich war hin und weg!“

Kurzhaarschnitt und Lesebrille, die weit unten auf der Nase sitzt: So kennt man Dr. Juliette Mallison.

Schließlich zog die Familie Hallowes nach Cambridge in England. Juliettes Bruder hatte ein orthopädisches Problem und der Arzt sagte, er solle schwimmen oder reiten. „Da hatte meine Mutter einen guten Grund, Pferde anzuschaffen.“

Von England nach Deutschland

In Cambrigde wuchs Juliette mit dem „Pony Club“ auf, einer internationalen Jugendorganisation, die sich der Nachwuchsausbildung im Pferdesport widmet. Sie ist besonders gut in Großbritannien, Irland, den USA, Kanada, Neuseeland und Australien organisiert. „Es wurde großen Wert auf korrektes Reiten gelegt“, erzählt sie, „und auf eine vielseitige Grundausbildung.“ In Cambridge studierte sie dann auch Veterinärmedizin und gründete den „Cambridge University Riding Club“. Sie hospitierte unter anderem bei Peter Rossdale und den Galoppern in Newmarket.

Bei einem internationalen Studentenreitturnier lernte sie ihren Mann Volker Mallison kennen. 1974 wurde in England geheiratet, da war Juliette Mallison 28 Jahre alt. „Zwei Wochen später sind wir mit Pferd, Kühlschrank und Landrover nach Deutschland gezogen.“ In Gießen promovierte die junge Veterinärmedizinerin über Pferde zum Thema „Therapieversuche mit LH-RH zur Wiederherstellung der Zyklusrhythmik bei der Stute“ (LH-RH steht für Luteinisierendes-Hormon-Releasing- Hormon) und 1979 verschlug es das Ehepaar, das vier Kinder bekommen hat, nach Göttingen. Dort sind sie bis heute geblieben.

Entdeckung der Distanz

„Mein Mann ist auch immer Vielseitigkeit geritten und auch unsere Kinder teilen diese Leidenschaft. Mein ältester Sohn hat ein eigenes Vielseitigkeitspferd, er ist eng mit Frank Ostholt befreundet. Eine meiner Töchter studiert Medizin und reitet Distanz und Vielseitigkeit. Wir sind alle große Olympia-Fans und versuchen immer nach Möglichkeit, die Olympischen Spiele (gemeinsam) zu erleben.“ Juliette Mallison, die mittlerweile „Granny“ (Großmutter) ist, sagt von sich selbst, dass sie nie eine Hausfrau war. 25 Jahre lang hatte sie eine eigene Praxis für Pferde. Zu Hause half und hilft immer noch eine Haushälterin. Zum Distanzreiten ist sie zufällig gekommen, weil sie 1975 die Equitana als Tierärztin besucht und den Sport kennengelernt hat. „Ich war von Anfang an sehr interessiert.“

Die 16-jährige Shagya-Araberstute Katawi ist Juliette Mallisons „Seelenpferd“.

Sie selbst hat kleinere Distanzritte bis 41 Kilometer bestritten, aber vor allem hat sie den Distanzsport am Boden begleitet, rund 92 internationale Distanzritte organisiert und die ganze Welt bereist. 1978 betreute sie ihren ersten Distanzritt. „Damals wusste man nichts von metabolischen Problemen. Es war ,learning by doing’“, erzählt sie und betont: „Ein guter Distanzritt war aber schon immer einer, bei dem kein Pferd behandelt werden muss. Das Pferd soll gute Leistung bringen, aber keinen Schaden nehmen. Denn eines steht außer Frage: Es ist kein Pech, wenn etwas passiert.“ 1982 hat sie bei den ersten FEI-Regeln zum Distanzreiten mitgewirkt, dann wurde der Sport international.

Austausch mit Toffi

Juliette Mallisons Faszination für das Distanzreiten ist grenzenlos, aber sie weiß auch nur zu gut, dass es gerade ihre Lieblingsdisziplin seit Jahren schafft, für negative Schlagzeilen zu sorgen. Berichte überforderter Pferde, die durch die Wettkämpfe geschlagen und mit Medikamenten auf den Beinen gehalten werden, machen viel zu oft die Runde. Es geht um zu hohe Geschwindigkeiten, die im Training und im Wettkampf geritten werden (teilweise dreimal höher als angemessen), Doping und Regelbrüche. Etliche Pferde sind gestorben. Zu zweifelhaftem Ruhm haben es vor allem die Reiter aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (UAE) gebracht. Gerade dort, wo der Distanzsport seinen Ursprung hat, ein hohes Ansehen genießt und noch heute als Nationalsport einen größeren Stellenwert hat als sonst irgendwo auf der Welt.

Vielleicht ist es gerade deshalb auch ein Thema, das Fotograf Jacques Toffi, der in Syrien aufgewachsen ist, beschäftigt. Juliette Mallison und ihn verbindet die Begeisterung für den Distanzsport schon seit Jahrzehnten. Kennengelernt haben sie sich Mitte der 1990er-Jahre bei einem „Pferdefest“ in Katar. „Die Tradition des Distanzreitens hat etwas Edles“, so Jacques Toffi im Gespräch mit der Veterinärin. „Man muss Respekt vor dem Pferd haben und man muss sein Pferd und seine körperliche Konstitution kennen, denn sonst ist man in der Wüste verloren. Das arabische Wort für den Distanzsport bedeutet übersetzt: die Grenze der Belastbarkeit ertragen.“ Die deutsche Bezeichnung „Distanzreiten“ sei auch nicht so glücklich gewählt, wirft Juliette Mallison ein, da passe das englische „endurance“ für Ausdauer besser.

Kritik am Sport

„Der Grundgedanke des Distanzsports ist edel, die Umsetzung infiziert. Denn die Araber sind überehrgeizig, sie können nicht verlieren, wollen Erfolg um jeden Preis“, umschreibt Jacques Toffi das Problem und Juliette Mallison pflichtet ihm bei: „Die Araber haben viel für den Sport getan, aber auch viel kaputt gemacht. Die Distanz hat sich viel zu schnell vom Freizeitsport zum Profisport entwickelt und Geld spielt eine wahnsinnig große Rolle.“ Häufig hat ein Scheich in den UAE einen ganzen Stall voller Pferde, die von seinen Angestellten trainiert werden. Steht ein Wettkampf an, schwingt er sich dann – teilweise völlig untrainiert – selbst in den Sattel, bei Wettkämpfen, die in der schweren Klasse zwischen 80 und 160 Kilometer lang sind. Mitunter schwänzten die Patriarchen die Siegerehrung der Weltreiterspiele bzw. ließen sich nicht von einer Frau die Medaillen umhängen. Es scheint, als gelten die Regeln nicht für alle gleich.

Den Startschuss für die öffentliche „negative Welle“ im Distanzsport sieht Juliette Mallison rückblickend bei den Weltreiterspielen 2002 in Jerez, damals starb ein Pferd an Überforderung. „In den folgenden Jahren wurde der Sport immer schneller. Wir hatten Pferde, die eingeschläfert wurden oder einfach von der Bildfläche verschwunden sind.“ Hinzu kam, dass vor allem Reiter aus den arabischen Ländern Regeln missachteten, Qualifikationsergebnisse fälschten und Pferde während des Wettkampfes austauschten.

Normalerweise viel für den Distanzsport in der Welt unterwegs, hier am Rande der Weltreiterspiele 2014 in der Normandie.

Ein böser Brief

„Ich habe einen bitterbösen Brief an die FEI geschrieben“, so Juliette Mallison. „Daraufhin wurden die Emirate für eine bestimmte Zeit suspendiert.“ Das war 2015. Seitdem wurden die UAE immer wieder von der FEI mit Strafen belegt und vom Weltverband ausgeschlossen. Die 2016 in Dubai geplanten Weltreiterspiele wurden in die Slowakei verlegt, deutsche Reiter dürfen nicht an Rennen in den UAE teilnehmen. Im Sommer 2020 wurde ein UAE-Reiter wegen unsäglicher Vergehen an seinem Pferd zu einer Rekordsperre von 20 Jahren verurteilt. Der letzte Stand: Die UAE sind erneut von der FEI ausgeschlossen, weil sie sich nicht an das offizielle Reglement gehalten haben.

Ticktack – im Hause Mallison in Göttingen ticken viele Standuhren und runden die klassische Einrichtung ab.

Juliette Mallison wurde aufgrund ihres Einsatzes bei den Herren aus den arabischen Ländern zur „persona non grata“: „Ich bin nicht mehr eingeladen worden.“ Das hinderte sie aber nicht daran, sich weiter für Distanzpferde und „ihren“ Sport stark zu machen – bis heute. Sie ist in engem Kontakt mit der FN und der FEI. Dank ihrer Initiative sind in Deutschland Distanzreitabzeichen eingeführt worden. Seit Kurzem sieht das internationale Reglement eine Obergrenze für die erlaubte Geschwindigkeit vor. Außerdem sind Pferdewechsel verboten, Pferd und Reiter müssen sich als Paar qualifizieren.

Reiten für die Seele

„Distanz muss Teamarbeit sein wie die Vielseitigkeit. So viel Horsemanship ist da gefragt“, betont die Veterinärin. „Man entwickelt sich mit seinem Pferd über mehrere Saisons. Man braucht ein Pferd fürs Leben. In Deutschland haben wir viele gute Distanzreiter – Bernhard Dornsiepen und Sabrina Arnold sind nur zwei Beispiele. Sie kennen ihre Pferde und wissen, wie sie ihre Ritte einteilen müssen. Ein Pferd, das ich einen Tag nach dem Wettkampf zur Transportfreigabe untersuche, muss zu mir sagen: Ach, ich hab doch nur einen Spaziergang gemacht. Das macht so viel Freude!“ Bei diesen Sätzen strahlt Juliette Mallisons Begeisterung aus ihren Augen. Ihre Haltung ist etwas gebeugt, ihr Wille, etwas zum Wohle der Pferde verändern zu wollen, ist es sicherlich nicht.

Und das, obwohl es häufig scheint, gegen Windmühlen zu kämpfen. Aber ihre positive Einstellung hat sie sich noch nie nehmen lassen, selbst nicht von dem frühen Unfalltod ihrer Tochter oder einer Krebserkrankung. Als Tierärztin im Distanzsport ist Juliette Mallison nach wie vor unterwegs, wenn nicht gerade eine Pandemie grassiert. Ihre Auszeiten nimmt sie sich dann bei ihrer 16-jährigen Shagya-Araberstute Katawi, die in einem Pensionsstall in der Nähe von Göttingen steht und mit der sie auch einen 41 Kilometer-Distanzritt absolviert hat. In den Sattel steigt sie, so oft es Zeit und Gesundheit zulassen – am liebsten, um auszureiten, aber ohne Wettkampfgedanke. „Ich reite für meine Seele.“

Laura Becker

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