Vorheriger Artikel

Ausgabe 05/2021
Yogastunde für Pferde

Nächster Artikel

Ausgabe 05/2021
Projekt „Grüner Stall“

Persönlichkeiten der Pferdeszene

Züchten für die Welt

Spitzenpferde, Stempelhengst, starke Stutenstämme: Die Zucht von Harm Thormählen und seiner Familie beeinflusst das Parcoursgeschehen weltweit – und das seit Jahrzehnten. Grund genug für einen Besuch in Schleswig-Holstein.

Der 75-jährige Harm Thormählen ist in eine Holsteiner Erfolgszuchtstätte hineingeboren worden. Ein Norddeutscher wie er im Buche steht: hochgewachsen, unaufgeregt, geradeheraus. Alle Fotos: Jacques Toffi

Folgt man dem Lauf der Elbe von Hamburg aus kommt man an der kleinen Gemeinde Kollmar nahe Glückstadt in Schleswig-Holstein vorbei. Kleine schmucke Häuser mit Reetdächern, Marschland so weit das Auge reicht… Hier ist der Hof Thormählen seit Generationen angesiedelt, genauer gesagt seit rund 500 Jahren. Ein Jahr vor dem Ende des 30-jährigen Krieges, im Jahr 1647, wurde neu gebaut und dann noch einmal 1921. Das alte Mauerwerk steht heute noch. Empfangen wird man erst von einer steifen Brise und dann von einem freundlichen „Moin!“ des Hausherrn, Harm Thormählen. Ein Norddeutscher wie er im Buche steht: hochgewachsen, unaufgeregt, geradeheraus. Wenn er spricht, hört man hier und da ein rollendes „R“. Hinter ihm ragt ein alter Schriftzug auf dem Giebel der Stallungen auf mit der Historie des Gebäudes. Der Name Thormählen bedeutet „Zur Mühle“, von denen es hier einst viele gab. Der 75-Jährige steht auf dem mit Kopfsteinen gepflasterten Areal, über das schon etliche Spitzenpferde geschritten sind, Holsteiner Parcoursathleten, darunter zahlreiche Erfolgsvererber und Zuchtstuten mit begehrenswertem Pedigree. „Nirgendwo sonst wurden auf so wenigen Quadratkilometern so viele internationale Springpferde hervorgebracht“, bringt es Harm Thormählen auf den Punkt.

„Gut, schlecht, vorwärts“

Eine der Thormäl’schen Erfolgsgeschichten steht als lebensgroßes Abbild im Garten am Wohnhaus: Capitol I, Holsteiner Stempelhengst. Bei kalter Witterung legen die Mitarbeiter dem schneeweißen Bronze-Capitol eine Decke auf. Was sein muss, muss sein… 2008 wurde die Skulptur von Künstlerin Heike Landherr enthüllt. Züchter des Hengstes, der 1999 mit 24 Jahren gestorben ist, war Harm Thormählen. Doch dazu später mehr. Harm Thormählen ist in eine Holsteiner Erfolgszuchtstätte hineingeboren worden und wuchs auf inmitten der Pferdezucht und des Pferdehandels. Schon sein Urgroßvater züchtete, sein Großvater Ferdinand zog Hengste, die bis heute in vielen Holsteiner Pedigrees zu finden sind, und sein Vater Rheder baute die Anlage zu einem der bedeutendsten Sportpferde- Handelsställe Europas aus. „Mein Vater war es, der gemeinsam mit Alwin Schockemöhle dafür sorgte, dass Cor de la Bryère nach Holstein kommt“, erinnert sich Harm Thormählen an eine der wichtigsten Zucht-Entscheidungen in Holstein. Reiter wie FritzThiedemann, Alwin Schockemöhle, Hans Günter Winkler und Hartwig Steenken gehörten zu den Kunden der Thormählens. Als Zehnjähriger begegnete Harm Thormählen Prinzessin Margaret, Schwester der englischen Königin Elisabeth, die auf den Hof kam, um Pferde zu kaufen. „Mit 14 Jahren habe ich sechs Pferde nach Mailand gebracht“, erinnert er sich an seine Jugend in dem Zuchtstall, „mit dem Zug…“. Fragt man ihn, bei wem er das Reiten gelernt hat, nennt er nicht etwa einen Reitlehrer, sondern er sagt: „Das war Rappel. Capitols Urgroßmutter. Die hatte mein Vater für die Zucht gekauft. Auf ihr habe ich reiten gelernt. Eine ganz liebe Stute. Unterricht gab’s ab und zuvon meinem Vater, allerdings kannte er nur die Kommandos: Gut, schlecht, vorwärts.“

Der HolsteinermStempelhengst Capitol I steht als weiße Bronze- Statue im Garten der Thormählen.

Der Züchter sammelte auch im Sattel zahllose Schleifen. Mit 18 Jahren ritt er sein erstes S-Springen und blieb 30 Jahre lang dabei.

Retina war die Beste

Familie Thormählen baute drei bedeutende Stutenstämme auf, zum einen den der Retina, Stamm 104 a. Retina, eine Ramzes AA-Tochter, wurde siebenjährig unter Fritz Thiedemann 1959 Hamburger Spring- Derbysiegerin und Mutter des für Holstein wichtigen Hengstes Capitano. Was macht eine gute Zuchtstute aus? „Leistung!“, ist Harm Thormählens knappe, aber doch so weitreichende Antwort. „Retina war die Beste, sie konnte mühelos zwei Meter überwinden.“ Sie brachte noch die Stuten Germania II und Ibylle. Letztere verkaufte Rheder Thormählen an Hartwig Schmidt, der aus ihren Nachfahren u.a. Corradina zog, Team-Welt- und Europameisterin sowie zweifache Vize-Europameisterin unter Carsten-Otto Nagel. 

„Wir züchten Hochleistungssportler, die sehr sensibel sind.“ Seine Expertise bringt Harm Thormählen in der Körkommission des Springpferdezuchtverbandes Oldenburg-International (OS) und in der des Studbooks Zangersheide ein und er ist Ersatzkörkommissar beim Holsteiner Verband.

„Unser Marschboden ist eine Mischung aus Moor- und Sandboden. Wenn es nicht regnet, wird der Boden steinhart. Das hat uns harte, widerstandsfähige Stämme beschert“, erklärt der Züchter. Ramzes AA zum Vater hatte auch Vase aus der Rappel, Stamm 173. Vases Vollbruder war Romanus, der unter Hans Günter Winkler 1961 und 1962 EM-Bronze und -Silber gewann und 1963 EM-Teamsilber. Vase wurde 27 Jahre alt und brachte 14 Fohlen zur Welt, darunter war Vaseline, mehrfach siegreich in Großen Preisen und im italienischen Nationenpreis- Team. 1996 ging sie im Aachener Nationenpreis mit dem Italiener Giovanni Govoni an den Start. Eigens zu diesem Anlass kaufte sich Harm Thormählen Schlips und Jackett und lief den Aachener Kurs persönlich mit ab. Die Hindernisse waren gewaltig, und Thormählen überzeugt, dass seine Vaseline das nicht schaffen würde. Weit gefehlt! Die Stute bekam im Parcours Flügel und leistete sich in beiden Umläufen gerade mal einen Fehler. Vase war auch Mutter der Folia, die wiederum Mutter sechs gekörter Hengste war: Capitol I, Capitol II, Capitol III, Latus I, Latus II und Cellebrio.

Capitol I mit Charakter

Capitol I gehört zu den beiden Pferden, die in der Geschichte der Familie Thormählen herausstechen. Er hat den Springsport weltweit geprägt und tut es noch. Die Daten des Hengstes sprechen für sich: Die Lebensgewinnsumme seiner Nachkommen beläuft sich bis dato auf rund 5,3 Millionen Euro, er hat 36 gekörte Söhne, 34 eingetragene Zuchtstutenund 255 eingetragene Sportpferde, bei den letzten fünf Olympischen Spielen in Sydney, Athen, Hongkong, London und Rio war Capitol I neben For Pleasure und Cornet Obolensky am häufigsten in den Pedigrees der teilnehmenden Pferde vertreten. (Am Rande: Auch Cornet Obolenskys Genetik stammt zu rund 80 Prozent über seine Vater- und Mutterlinie vom Hof Thormählen.)

2000 und 2001 führte Capitol I das WBFSH-Ranking der weltbesten Springvererber an, nachdem er 1999 bereits auf Platz zwei lag. Capitol I hat die Holsteiner Zucht weiß gemacht, heißt es. Im Jahr 2000 stellte er mit Carthago Z, Campione M und Dobel’s Cento gleich drei Olympiapferde. 2004 waren es in Athen mit VDL Cardento, Casita, Dobel’s Cento und Verelst Goliath sogar vier. Über seine Söhne Cassini I (Bo Kristoffersen/DEN bzw. Franke Sloothaak), Carthago Z (Jos Lansink/ BEL), C-Indoctro (Ulrich Kirchhoff), Carolus I (Stefan Lauber/SUI bzw. Hans-Peter Konle), Dobel’s Cento (Otto Becker), VDL Cardento (Peter Eriksson/SWE), Calato (Herbert Blöcker bzw. Jennifer Foghd Pedersen/ DEN) bleiben seine Gene auch über 20 Jahre nach seinem Tod erhalten. „Capitol hatte Charakter“, betont Harm Thormählen. „Er war unheimlich lieb, hatte einen starken Rücken und brutales Vermögen, die Stangen lagen auf den Ständern! Und er hatte einen unglaublichen Willen – den hatte er von seiner Mutter.“

Dabei war Capitols Start erst einmal etwas holperig, denn bei seiner Körung 1977 konnte er seine Vorzüge nicht ausspielen, weil man zu dieser Zeit die Junghengste nicht freispringen ließ. Zu seinem großen Auftritt kam Capitol, der nie selbst im Turniereinsatz war, aber dann bei der Holsteiner Hengstvorführung in Elmshorn, wo er nur so über die Sprünge flog und die Züchter von sich überzeugte. Capitol zeigte Wollen und Können. „Man muss einen Hengst im Galopp und über einem kleinen Sprung sehen“, betont Harm Thormählen. „In der Zucht soll ein Hengst Mängel ausgleichen und er braucht eine starke Mutterleistung.“ Noch heute erinnert er sich an Capitols Hengstvorführungen: „Das ist eine meiner schönsten Erinnerungen: Capitol kam bei den Hengstvorführungen immer zum Schluss dran, er war der Höhepunkt und keiner ließ sich ihn entgehen. Da konnte es noch so kalt sein. Die Halle war früher ja nicht beheizt. Die Züchter versuchten sich mit Zeitungen gegen die Kälte zu wappnen.“

Ein Jahr vor dem Ende des 30-jährigen Krieges, im Jahr 1647, wurde der Hof neu gebaut und dann noch einmal 1921. Das alte Mauerwerk steht heute noch.

Seit mehr als 500 Jahren ist der Hof Thormählen in Kollmar in Schleswig-Holstein angesiedelt. Der Name Thormählen bedeutet „Zur Mühle“.

30 Jahre aktiv im Springsattel

Harm Thormählen kann nicht nur auf eine erfolgreiche Zuchtgeschichte zurückblicken, er sammelte auch im Sattel zahllose Schleifen. Mit 18 Jahren ritt er sein erstes S-Springen und blieb 30 Jahre (!) lang dabei – „Ich habe einfach gute Pferde bekommen“, sagt er bescheiden. Er absolvierte eine Landwirtschaftslehre, ritt am Abend und kümmerte sich am Wochenende um die Kundschaft. „Bei meiner Meisterprüfung habe ich eine Vollkostenrechnung für ein Fohlen erstellt, meine Berechnung belief sich auf 10.000 DM für ein Fohlen. Ich habe u.a. begründet, dass eine Stute mit jedem Fohlen weniger wert ist. Da war dann nur die Frage, ob ich damit durch die Prüfung falle oder ob die Prüfer begeistert sind… Ich habe die Note 1 bekommen.“

Betrieb mit 150 Pferden

1973 übernahm Harm Thormählen mit 27 Jahren den Betrieb seines Vaters. Mit seiner Frau Ingela ist er in zweiter Ehe verheiratet. Sie gehörte mit ihrer Schwester Dr. Annelie Baumgart in den 70er Jahren zum Bereiterteam der Hannoveraner Auktionen und arbeitete als Apothekerin. Das Ehepaar hat einen Sohn. Zum Betrieb Thormählen gehören rund 150 Pferde und ca. 100 Hektar Land. 

Zehn Mitarbeiter kümmern sich um Hof und Tiere. Etwa 30 Pferde werden jährlich angeritten und ausgebildet. „Das Züchten an sich ist nicht schwierig“, erklärt Harm Thormählen, „das größere Problem ist, gutes Personal zu finden. Wir züchten Hochleistungssportler, die sehr sensibel sind.“ Seine Expertise bringt Harm Thormählen in der Körkommission des Springpferdezuchtverbandes Oldenburg-International (OS) und in der des Studbooks Zangersheide ein und er ist Ersatzkörkommissar beim Holsteiner Verband.

1973 übernimmt Harm Thormählen den Hof von seinem Vater. Dazu gehören rund 150 Pferde und 100 Hektar Land.

Fein Cera holt Gold in Athen

Capitol I ist eines der beiden ganz besonderen Thormählen-Pferde, die Stute Fein Cera ist das andere: „Sie war unser sportlich bestes Pferd“, berichtet ihr Züchter. Fein Cera geht zurück auf den dritten Stutenstamm der Thormählens, Stamm 3615 der Gera. Fein Ceras Mutter ist Cera I v. Cor de la Bryère. Wie alle Stuten bei Thormählens wurde Cera I zunächst in der Zucht eingesetzt. 1991 brachte die damals vierjährige Schimmelstute Fein Cera v. Landadel zur Welt. Anschließend wechselte Cera I in den Besitz von Prinzessin Haya, der früheren FEI-Präsidentin, und war mit dem Iren Paul Darragh und zuletzt mit Otto Becker (Sieg Deutsche Meisterschaft und im Nationenpreis in Aachen) international erfolgreich. Ceras Großmutter Sarbit ging sechsjährig erfolgreich unter Harm Thormählen bis hin zum Nationenpreisstart und siebenjährig bestritt sie unter Kurt Jarasinski mehrere Große Preise und Nationenpreise. Sie brachte noch die Stute Larsa, die ihrerseits Mutter des gekörten Lacapo wurde. Dieser war zunächst beim Holsteiner Verband stationiert und wirkte dann lange Zeit in Sachsen-Anhalt. Lacapo stellte sechs gekörte Söhne, darunter Lucky Luke und Flemmingh, Vater der Hengste Lingh, Krack C und Fairbanks. Fein Cera war 2002 unter dem USAmerikaner Peter Wylde das beste Pferd im Finale der Weltreiterspiele in Jerez de la Frontera. Für das Paar gab es Einzelbronze. 2004 gewannen die beiden Teamgold bei den Olympischen Spielen in Athen. Fein Cera war nicht nur selbst erfolgreich, sondern gab ihr Potenzial auch weiter. Ihre Enkeltochter Zera gewann 2017 unter Pato Muente das Hamburger Springderby – es war der erste S-Sieg der Stute!

Come On v. Cantus begann seine Sportkarriere mit Harm Thormählen, die er dann unter Carsten-Otto Nagel, Ludger Beerbaum und Ralf Schneider fortsetzte. Auch Prinzessin Haya, die frühere FEI-Präsidentin, saß in Come Ons Sattel und platzierte sich mit ihm u.a. beim CHIO Aachen.

Was macht eine gute Zuchtstute aus? „Leistung!“, ist Harm Thormählens Antwort.

Gute Pferde – fairer Preis

„Wir wollen gute Pferde zum fairen Preis anbieten. Die Turnierpferde verkaufen wir jung und optimal ist es, wenn sie dann zurückkommen“, erklärt Harm Thormählen sein Betriebskonzept. „Wir halten die Verbindung mit den Reitern und neuen Besitzern.“ Doch der Markt wird nicht einfacher. „Wir sind mittlerweile die einzigen hier, die noch züchten.“ Was Harm Thormählen trotzdem gut schlafen lässt: Die Zukunft der Thormäl’schen Zucht und des Betriebs ist gesichert, die Nachfolge geklärt. Der Neffe Philipp Baumgart wird den Hof übernehmen.

Laura Becker

Vorheriger Artikel

Ausgabe 05/2021
Yogastunde für Pferde

Nächster Artikel

Ausgabe 05/2021
Projekt „Grüner Stall“