Vorheriger Artikel
Ausgabe 11-12/2023
„Pack an! Mach mit!“ hilft Reitvereinen
Nächster Artikel
Ausgabe 11-12/2023
PM-Reise: Warmblüter im Land von Tulpen und Windmühlen
Reiten als Gesundheitssport
Das Pferd bewegt
Reiten ist Sport – das lässt sich nicht bestreiten. Während des Reitens werden unzählige verschiedene Muskelgruppen angesprochen und die Koordination wird gefordert. Neben dem Spaß am Reiten und dem Miteinander von Pferd und Mensch, kann Reiten aber auch gezielt eingesetzt werden – als Gesundheitssport.
Die dreidimensionalen Bewegungen auf dem Pferd mobilisieren Hüfte, Becken, Rumpf und Rücken. Foto: Thoms Lehmann/FN-Archiv
Das Leben ist oft schnell und stressig, Zeit für einen Ausgleich ist rar und den Bewegungsapparat betreffende Erkrankungen nehmen zu, nicht zuletzt, weil die meisten Arbeitnehmer sitzenden Tätigkeiten nachgehen. Laut Robert Koch Institut gehören Rückenschmerzen neben Kopfschmerzen zu den häufigsten Schmerzproblemen, die die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigen. Reitsport gilt als Rückensport, als ganzheitliche Bewegung gepaart mit einer emotionalen Komponente: dem Pferd. Der Reitsport bietet aber noch mehr. In Deutschland gibt es insgesamt sechs Sportarten, die den Titel Gesundheitssport tragen, Reiten ist eine von ihnen. Es fordert den gesamten Körper – psychisch und physisch. So erhielt die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) 2008 vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und der Bundesärztekammer die Zusage, in Pferdesportvereinen das Qualitätssiegel „SPORT PRO GESUNDHEIT“ vergeben zu können. „Das Pferd bewegt den Menschen“, fasst Martina Hermann den Leitgedanken zusammen. Die Pferdewirtschaftsmeisterin mit dem Schwerpunkt Service und Haltung ist erste Vorsitzende der Fachgruppe „Gesundheitssport mit Pferd“ im Deutschen Reiter- und Fahrerverband. Der Gesundheitssport mit Pferd umfasst ein ganzheitliches Bewegungskonzept, das Mensch und Pferd zusammenbringt.
Dem Rhythmus folgen
Die dreidimensionalen Bewegungen auf dem Pferd mobilisieren Hüfte, Becken, Rumpf und Rücken. Kann sich der Reiter auf den Bewegungsrhythmus des Pferdes einlassen, wird automatisch auch das eigene Körperbewusstsein geschult. Das Becken stellt die Verbindung zwischen Reiter und Pferd dar und ist gleichzeitig das Bewegungszentrum des Reiters. Im Becken kommen die Bewegungen des Pferdes beim Reiter an und von dort werden sie weitergeleitet. Hinzu kommt der Entspannungseffekt – zumindest, wenn sich der Mensch auf die Begegnung mit dem Pferd und dessen Bewegungen einlassen kann. „Die Dreidimensionalität der Bewegungen, also vor und zurück, links und rechts, auf und ab, schult bei jedem Schritt Gleichgewicht, Koordination und Körpergefühl. Der Körper leistet also die ganze Zeit im Sattel Ausgleichsarbeit, vor allem auch die tieferliegende Muskulatur wird angesprochen“, erklärt Martina Hermann die gesundheitlichen Vorteile. Als Wohltat für den Rücken gilt das Reiten schon lange. Allein das Schrittreiten bietet einen sehr guten Reiz für die Bandscheiben: Durch die gleichmäßige und rhythmische Bewegung wird der Stoffwechsel der Bandscheiben angeregt und sie werden optimal versorgt, bleiben geschmeidig, funktionsfähig und verschleißen nicht. „Das aufrechte Sitzen ist dabei A und O, weil die Bandscheiben gleichmäßig belastet werden.
Das aufrechte Sitzen ist dabei das A und O, weil die Bandscheiben gleichmäßig belastet werden. Foto: Thoms Lehmann/FN-Archiv
Die Seminare aus dem präventiven Programm können unterschiedliche Schwerpunkte haben und verschiedene Sportarten vereinen: Elemente aus Gymnastik, Yoga oder Muskeltraining. Foto: Stefan Lafrentz/FN-Archiv
Dazu kommt, dass das Sportprogramm auf dem Pferd auch immer durch Übungen am Boden ergänzt wird, zum Beispiel mit gezieltem Bauchmuskeltraining“, verrät Martina Hermann. Die Bauchmuskulatur ist das Pendant zur Rückenmuskulatur, entsprechend sollten beide Muskelgruppen im Gleichmaß beansprucht und trainiert werden. Nur so wird der gesamte Stützapparat stabilisiert und die Wirbelsäule entlastet. Vom Gesundheitssport mit Pferd profitieren allerdings nicht nur die Teilnehmer der Präventionsprogramme. „Die funktionale Bewegungslehre, die Bestandteil der Fortbildung für Trainer ist, ermöglicht es auch im normalen Reitunterricht, den Reitern ein besseres Bewegungsgefühl zu vermitteln. Man wird quasi im Bewegungssehen geschult. Auch langjährige Reiter haben Probleme damit, beim Aussitzen mitzuschwingen oder sich wirklich mit, anstatt gegen das Pferd zu bewegen. Es profitieren letztlich alle, auch das Pferd, weil es immer auch um seine Gesunderhaltung geht“, erläutert Anne Zimmer, FN-Trainerin B und Präventionstrainerin Reiten im Gesundheitssport.
Bewegungsangebot
Der Ansatz vom Gesundheitssport mit Pferd findet sich in der Gesundheits- und Bewegungsprävention. Allgemein soll also die Bewegungssituation verbessert werden. Je nach Schwerpunkt der Kurse kann es dabei um Rückenschule, Mobilisation oder andere Funktionsbereiche gehen. „Man darf Reiten als Gesundheitssport allerdings nicht mit Hippotherapie vergleichen. Es ist wirklich in erster Linie ein Bewegungsangebot mit und rund um das Pferd. Das ist das Schöne daran: Das Zusammensein mit dem Pferd impliziert einfach Bewegung: Pferd und Equipment müssen geholt und das Pferd ausgerüstet werden, Stallarbeit fällt ebenso an – das alles ist ja bereits Bewegung. Das macht den Pferdesport so gesund. Die Ausgestaltung der Kurse können die Trainer selbst bestimmen. Wir haben uns zum Beispiel auf die Rückenschule konzentriert – und unsere Programme sind immer voll“, erzählt Anne Zimmer, die im ostfriesischen Leer eine Reitanlage betreibt.
Es handelt sich um ein Bewegungsangebot mit und rund um das Pferd. Dazu gehört auch, das Pferd vorzubereiten und – natürlich – sich dabei bereits zu bewegen. Foto: Thoms Lehmann/FN-Archiv
Nicht nur das Reiten selbst ist Bestandteil des Programms: Es kommen auch viele Hilfsmittel für mehr Körperbewusstsein und Muskeltraining zum Einsatz. Foto: Thoms Lehmann/FN-Archiv
Gestaltung unterschiedlich
Der Umgang mit Pferden tut nicht nur dem Körper, sondern auch der Seele gut. Und das braucht es, um wirklich mit Motivation dabei zu sein und mehr Bewegung in seinen Alltag zu integrieren. Und integrieren ist das Stichwort: „Wir integrieren grundlegend ein buntes Sportprogramm auch in den Reitschulunterricht. Das beginnt beim Aufwärmen vor dem Reiten und an manchen Tagen binden wir sogar einfach ein richtiges Sportprogramm mit in den Tagesablauf ein. Davon profitieren alle“, sagt Martina Hermann, die auf Rügen eine Reitanlage mit Schulpferden führt. Die Gestaltung der Seminare kann von Trainer zu Trainer sehr unterschiedlich sein, je nachdem, auf welchem Bereich der Gesundheitsprävention der Schwerpunkt liegt. So können sich Elemente vom Yoga, Pilates oder Gymnastik im Angebot wiederfinden – nur eben im Kontext Pferd. „Da denkt man natürlich ganz klassisch ans Arme-kreisen-lassen, Apfelpflücken oder Dehnübungen. Man kann aber auch gezielt Muskeltraining mit Gymnastikbändern einbauen oder das Gefühl über den Körper an sich steht im Vordergrund. Wenn ich mir meines Körpers besser bewusst bin, dann kann ich auch besser auf ihn Acht geben“, erklärt Martina Hermann. Wichtig zu wissen: Beim Reiten als Gesundheitssport steht die Bewegung klar im Vordergrund, nicht das Reiten. Übungen können sowohl auf als auch neben dem Pferd stattfinden. Es handelt sich jedoch nie um klassischen Reitunterricht.
Der Kontakt zum Pferd tut auch der Seele gut und fördert die mentale Gesundheit. Foto: Thoms Lehmann/FN-Archiv
Das Fühlen der Bewegung des Pferdes ist ein wichtiges Element des Gesundheitssports mit Pferd – kombiniert werden kleine Übungen für mehr Körpergefühl und Balance. Foto: Thoms Lehmann/FN-Archiv
Für jeden etwas?
Gesundheitssport mit Pferd richtet sich an jeden, der mehr Bewegung in seinen Alltag integrieren möchte und den Kontakt zum Pferd sucht. „Es ist natürlich nicht wie bei der Rückenschule im Fitness-Center, zu der jeder geht. Die Interessierten entscheiden sich bewusst für den Kontext Pferd – entweder weil sie früher schon mal geritten sind oder sie einfach Sport in einem sehr naturverbundenen Kontext suchen“, sagt Anne Zimmer. „In unseren Kursen sind meist Anfänger, die noch nicht geritten haben. Das muss aber kein Nachteil sein, eigentlich bietet es sogar weit mehr Möglichkeiten. Der Umgang mit Pferden fördert letztlich nicht nur die Fitness, sondern auch das Selbstvertrauen.“ Anfänger und Wiedereinsteiger sind beim präventiven Angebot jedenfalls gut aufgehoben, weil Bewegungslehre und der korrekte Umgang mit dem Pferd verbunden werden. „Durch die sportpraktischen Übungen konzentrieren sich die Teilnehmer nicht so sehr auf das Pferd und seine Größe, sie können viel besser lockerlassen und mit der Bewegung des Pferdes mitgehen“, erklärt Martina Hermann vom Hof Viervitz. Die Bewegung ist natürlich wichtig, aber es geht bei den Angeboten auch um Selbstvertrauen, Harmonie mit dem Pferd, Ruhe und Entschleunigung. „Durch meine Bürotätigkeit habe ich mit der Zeit immer häufiger Rückenprobleme gehabt, die meine Lebensqualität wirklich eingeschränkt haben. Durch meine Tochter, die selbst jahrelang reitet, bin ich dann auf ein Bewegungsangebot ihres Vereins aufmerksam geworden, das quasi Fitnessstudio und Reiten miteinander verbindet. Pferde fand ich immer schon toll, aber so richtige Lust zum Reiten hatte ich nie. Dieses Konzept hat mich dann aber überzeugt und seitdem habe ich sogar den Spaß am Reiten gefunden [lacht] – jetzt bin ich einmal die Woche in einem Kurs zur präventiven Bewegung mit Pferd“, erzählt Ilka Scheuer, Teilnehmerin eines Kurses aus dem Bereich Gesundheitssport mit Pferd.
Chance für die Zukunft
Nicht zuletzt die Corona-Pandemie hat den Reitschulen übel mitgespielt, aber auch davon losgelöst haben Pferdesportvereine und Landesverbände teilweise mit schrumpfenden Mitgliederzahlen zu kämpfen. Pferd und Mensch als Einheit müssen wieder zurück in den Mittelpunkt des Pferdesports und der Öffentlichkeit. „Wir müssen anfangen, über den Tellerrand zu schauen, nicht nur den ‚Standard-Reiter‘ sehen und mehr Zugänge zum Pferd schaffen“, appelliert Martina Hermann. Und das lohnt sich auch. Das Gütesiegel spricht viele Anfänger und Wiedereinsteiger an, die auf der einen Seite den Kontakt zum Pferd suchen, auf der anderen Seite aber mehr erwarten als klassischen Reitunterricht. „Durch die Fortbildung hat man als Trainer ein ganz anderes Auge für den Reiter und seine Bewegungen. Beim Reiten als Gesundheitssport läuft ganz viel zusammen, Trainer können das Konzept nach Belieben und Interesse ausbauen und erweitern – das ist das Schöne daran. Es bietet einfach mehr Zugänge zum Pferd“, resümiert die erfahrene Trainerin.
Gesundheitssport mit Pferd als Kassenleistung?
Gesundheitssport mit Pferd ist in der Regel kein Pauschalangebot der Krankenkassen. Allerdings werden die meisten Programme, die durch die zentrale Prüfstelle Prävention anerkannt sind, von den Krankenkassen bezuschusst. Ebenfalls hilfreich kann es sein, sich an einen Pferdesportverein zu wenden, der das Gütesiegel SPORT PRO GESUNDHEIT trägt. Auch Hausärzte können ein sogenanntes „Rezept für Bewegung“ ausstellen und je nach Bedürfnis Gesundheitssport mit Pferd empfehlen. Interessierte sollten sich vorab bei ihren Krankenkassen über eine Bezuschussung informieren. Welche Reitvereine Gesundheitssport mit Pferd anbieten, dazu geben die jeweiligen Landespferdesportverbände Auskunft.
Ausbilder im Gesundheitssport mit Pferd kann werden, wer die Trainer C-Prüfung bestanden und eine mindestens einjährige Ausbildertätigkeit vorweisen kann. Foto: Stefan Lafrentz/FN-Archiv
Lockerungsübungen, Armkreisen – viele Elemente aus dem Gesundheitssport mit Pferd können auch den normalen Reitunterricht sinnvoll ergänzen. Foto: Stefan Lafrentz/FN-Archiv
Wertvolle Impulse
Nicht zuletzt profitiert auch der klassische Reitsportler von der Zusatzqualifikation: Durch ein besseres Verständnis von Anatomie, Physiologie, Trainings- und Bewegungslehre kann auch der „normale“ Reitunterricht sinnvoll ergänzt und verbessert werden. „Durch die zusätzlichen Impulse haben Trainer mehr Möglichkeiten, Reitproblemen entgegenzuwirken. Eine feste Rumpfmuskulatur oder klemmende Knie sind meist durch mehrere Faktoren verursacht. Verstehe ich als Trainer also auch die Bewegung und Funktionsweise des menschlichen Körpers besser, kann ich auch neue und andere Impulse weitergeben, die genau solche Reitprobleme vielleicht gezielter lösen können“, resümiert die erfahrene Trainerin. In einem Pilotprojekt der FN auf dem Landgestüt Redefin machten die Referentinnen Dr. Catja Winter und Natalie Kühn den Gesundheitssport mit Pferd zum Thema eines Lehrgangs, der sich mit der Erhaltung, Steigerung und Wiederherstellung der psychischen und körperlichen Funktions- und Leistungsfähigkeit beschäftigte. Ziel war es, die Inhalte aus Anatomie, Physiologie, Trainings- und Bewegungslehre, Didaktik und Methodik in den Unterricht miteinfließen zu lassen, wobei dieser sich letztlich an alle Altersklassen und Leistungsstufen richten sollte.
Tipps für mehr Bewegung am und mit dem Pferd
- Dressuraufgaben einfach mal vorab ohne Pferd selbst durchlaufen und sich visualisieren, was wirklich gefordert wird
- kurze Warm-up-Phasen vor dem Reiten einbauen
- die Arbeit rund um das Pferd präventiv gestalten: rückenfreundlich bücken, keine einseitige Belastung, gutes Schuhwerk
- gemeinsam mit anderen Pferdebesitzern in regelmäßigen Abständen kleine Sportprogramme initiieren: Crosslauf, Gymnastik, Balancieren auf Cavalettis usw.
- regelmäßiges Dehnen des gesamten Körpers nach dem Reiten hilft, Muskelkater und Verspannungen vorzubeugen und fördert die Regeneration
Gütesiegel beachten
Das Qualitätssiegel SPORT PRO GESUNDHEIT unterstreicht die besondere Sach- und Fachkompetenz eines Pferdesportvereins im gesundheitsorientierten Sport. Es dient als Qualitätsmerkmal und weist auf besonders qualifizierte und geprüfte Angebote hin. „Die Kombination aus Reitlehre und Gesundheitsmanagement macht diese Sparte so wertvoll“, resümiert Martina Hermann. Gleichwohl dürfe nicht vergessen werden, dass die Gesundheit natürlich auch im klassischen Reitsport immer an erster Stelle stehen sollte – bei Mensch und Tier. Die Prüfung zum „Ausbilder im Gesundheitssport mit Pferd“ kann daher auch nur derjenige ablegen, der die Trainer C-Prüfung bestanden und eine mindestens einjährige Ausbildertätigkeit vorweisen kann. Gesundheitssport mit Pferd ist dabei als Präventionsangebot zu verstehen, das der Entstehung von gesundheitlichen Problemen, die auf Bewegungsmangel zurückzuführen sind, entgegenwirken soll. „Natürlich ist Reiten als Gesundheitssport nicht mit dem klassischen Reiten oder der klassischen Reitausbildung vergleichbar, dennoch steht auch hier das Miteinander mit dem Pferd im Vordergrund. Das Pferd bewegt uns letztlich. Auch bei diesem Angebot ist das Wohl des Tieres, die Verantwortung ihm gegenüber und sein Wohlergehen genauso im Fokus wie das des Teilnehmers“, sagt Martina Hermann.
Lorella Joschko
Weiterführende Informationen zum Gesundheitssport mit Pferd gibt es auf der FN-Webseite unter www.pferd-aktuell.de/breitensport/gesundheitssport-mit-pferd.
Vorheriger Artikel
Ausgabe 11-12/2023
„Pack an! Mach mit!“ hilft Reitvereinen
Nächster Artikel
Ausgabe 11-12/2023
PM-Reise: Warmblüter im Land von Tulpen und Windmühlen