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Persönlichkeiten der Pferdeszene: Ingrid Thomsem
Die Vorreiterin
Sie war die erste Frau im FN-Präsidium und im Pferdesportverband Schleswig-Holstein, hat sich für Frauen im Pferdesport eingesetzt und außerdem den Breitensport auf allen Ebenen salonfähig gemacht: Ingrid Thomsen hat 40 Jahre Ehrenamt geleistet und war – wenn auch unbewusst – eine Revolutionärin.
Fotos: Jacques Toffi & privat
Tritt man bei Ingrid Thomsen aus der Haustür, weht einem sofort eine frische Brise Ostseeluft um die Nase, Möwengeschrei schwappt herüber. Die Kieler Förde liegt einen Steinwurf entfernt von dem Haus mit herrlichem Wasserblick, in dem Familie Thomsen seit über 50 Jahren lebt. Ursprünglich stammt Ingrid Thomsen aus Süddeutschland, aber sie liebt das Meer und das Wasser, wie sie sagt. Und sie braucht den freien Blick, den Horizont. Ihr Weitblick war es sicherlich auch – gepaart mit ihrer sehr freundlichen und doch souveränen Art – der sie hat so viele Dinge bewegen lassen. In Kiel hat Ingrid Thomsen ihr Leben der Familie, den Pferden und vor allem dem Ehrenamt gewidmet. Dabei hat sich die 85-Jährige stets für Mädchen und Frauen im Reitsport und in Verbänden eingesetzt. Noch am Vorabend saß sie bis spät in die Nacht mit Kolleginnen und Kollegen des Pferdesportverbands Schleswig-Holstein und der FN zusammen, um über die Zukunft des Pferdesports zu diskutieren. Dass sie wenig geschlafen hat, ist ihr mitnichten anzumerken, anzusehen schon gleich gar nicht. Ihre Gastfreundschaft lässt einen sich sehr willkommen fühlen.
Beginn einer „Ehrenamtskarriere“
Mit jungen 27 Jahren übernahm Ingrid Thomsen ihr erstes Ehrenamt. Von 1965 bis 1990 war sie Landesjugendwartin in Schleswig-Holstein. Im Landessportverband (LSV) mussten Verbände mit weiblichen Mitgliedern eine weibliche Vertretung für die deutsche Sportjugend (DSJ) haben. Der Pferde sportverband Schleswig-Holstein ist Teil des LSV. Also wurde Ingrid Thomsen Landesjugendwartin als Vertreterin für den Reitsport. Außerdem war sie Voltigierbeauftragte für Schleswig-Holstein. In dieser Funktion war sie verantwortlich für die erste Europameisterschaft im Voltigieren in Schenefeld. Anschließend wurde sie auch für die erste Voltigier-WM in Heilbronn angeheuert, wo sie innerhalb einer Woche ein riesiges Event aus dem Boden stampfte. Jahrelang kämpfte Ingrid Thomsenm für die Aufhebung der Altersbegrenzung im Voltigieren, zu Beginn lag diese bei 14 Jahren. Dafür legte sie sich auch mit dem damaligen FN-Präsidenten Graf Landsberg-Velen an, der darauf bestand, dass das Voltigieren ein Zubringersport für den Reitsport und somit auch altersmäßig reguliert bleibt. Aber Ingrid Thomsen hatte den längeren Atem: Schritt für Schritt wur- de die Altersbegrenzung nach oben korrigiert, mittlerweile ist sie gänzlich aufgehoben.
„Kiel war für mich der Nordpol“, sagt Ingrid Thomsen, die es erst durch ihren Mann in den Norden verschlug – mit ihm gemeinsam entdeckte sie auch das Segeln.
Gelebte Gastfreundschaft zuhause in Kiel. Einer der fünf Enkel wohnt bei ihr, das Haus steht Familie und Freunden immer offen.
Erste Schritte mit Pferden
Mit dem Voltigieren ist die 85-Jährige in ganz besonderer Weise verbunden, war es doch der Sport, der sie selbst als junges Mädchen aufs Pferd brachte. Geboren und aufgewachsen ist sie mit einer Schwester in Heilbronn – mit Neckarwasser getauft, wie sie sagt, Jahrgang 1938. Erst als sie zwölf Jahre alt war, in der Nachkriegszeit, hatte sie die Möglichkeit, mit Voltigieren anzufangen, zunächst heimlich, weil ihre Eltern nicht begeistert waren. Später ritt sie dann auf Schulpferden, bei Paul Lorenz aus Stuttgart und Oberstleutnant Wilkens. „Es waren sehr strenge Unterrichtsstunden, wie in der Kavallerie eben“, erinnert sie sich. „Da flog einem schon mal ein Schlüsselbund in den Rücken. Die Kommandos hatten mehr was von Drill, aber wir haben auch viel gelernt.“
Schwabenprinz und Kieler Sprotte
Nach dem Abitur machte sie auf Wunsch ihrer Eltern eine kaufmännische Ausbildung und begann in der Baustofffirma ihres Vaters zu arbeiten. Von ihrem ersten eigenen Geld kaufte sie ihr erstes eigenes Pferd, einen Hannoveraner Wallach namens Schwabenprinz. In der Firma ihres Vaters sollte sie schließlich auch eine schicksalhafte Begegnung haben: Sie lernte ihren späteren Mann Dierk Thomsen kennen. „Eine Kieler Sprotte“, so Ingrid Thomsen. „Für mich war damals die Main-Linie das Nördlichste, was ich mir vorstellen konnte. Kiel war für mich der Nordpol, aber auch der Inbegriff des Segelsports durch die Kieler Woche.“ Die beiden wurden ein Paar. Ingrid Thomsen begann ein Studium der französischen Literatur an der Sorbonne in Paris, Dierk Thomsen wieder um übernahm die Firma seines Vaters. 1962 heirateten die beiden und zogen gemeinsam nach Kiel. Schwabenprinz musste natürlich mitkommen. Er wurde mit einem Transporter nach Kiel gebracht, nur blieb der LKW morgens um vier Uhr wegen eines Motorschadens am Kieler Bahnhof liegen. Ingrid Thomsen nahm ihren Wallach kurzerhand an Halfter und Strick und marschierte ei- nige Kilometer zu Fuß zu dem Stall, der Schwabenprinz’ neue Heimat werden sollte. Später erfuhr sie, dass im Stall gemutmaßt wurde, sie sei mit dem Pferd von Heilbronn zu Fuß nach Kiel gezogen.
Reiten und Zucht
Das Ehepaar Thomsen bekam zwischen 1965 und 1970 drei Kinder, zwei Töchter und einen Sohn, sie lernten reiten und segeln. Ingrid Thomsen verbrachte ihre Vormittage im Stall, ab mittags kümmerte sie sich um Haus, Hof und Kinder. Zu ihrer aktiven Zeit ist sie Dressur, Springen und Vielseitigkeit bis Klasse L geritten, unter anderem Stubbendorf-Prüfungen. Mit 40 Jahren hängte sie die Turnierreiterei an den Nagel, durch das Ehrenamt fehlte die Zeit für intensives Training, aber bis heute sitzt sie noch dreimal die Woche im Sattel, am liebsten geht sie ins Gelände. Sie hat die Holsteiner Stute Layla und deren vierjährige Tochter, die sie selbst gezogen hat. Nicht ihr erstes eigenes Zuchtprodukt. 1990 zog sie ein Fohlen von Donnerhall, es war eines der ersten Nachkommen des legendären Hengstes. „Ich bin zu Donnerhall in die Box, da war er gerade fünfjährig. Er überzeugte mich, der beste Partner für meine Stute zu sein.“ Sie züchtete zwei Stutfohlen: „Diesen Luxus habe ich mir gegönnt, eine Freieitreiterin mit zwei Donnerhall-Nachkommen zu sein.“
Frische Brise, Möwengeschrei – Ingrid Thomsen wohnt fast direkt am Wasser, hat das Meer über die Jahre lieben gelernt.
Zu ihrer aktiven Zeit ritt sie Turnierprüfungen bis Klasse L in Dressur, Springen und Vielseitigkeit.
Ingrid Thomsen mit ihren Pferden.
Pferde bedeuten Leben
Bei der Frage, was ihr Pferde bedeuten, geht Ingrid Thomsen kurz in sich, ihr Blick schweift über die Ostsee. Dann sagt sie: „Pferde bedeuten für mich Leben. Pferde fordern und konditionieren mich. Sie geben mir Kraft, meinen noch immer vielen Verpflichtungen nachkommen zu können. Sie erden mich und lassen mich für Stunden den Alltag vergessen. Ihr Vertrauen gewinnen zu können, bedeutet mir viel, denn sie sind wunderbare Lebewesen mit erstaunlich vielen erzieherischen Komponenten.“
Pferdefest des Nordens
Nach 25 Jahren als Landesjugendwartin wollte Ingrid Thomsen ihr Ehrenamt eigentlich abgeben, doch dann kam die Anfrage, ob sie den Bereich Breitensport in Schleswig-Holstein übernehmen könnte, der bis dato nicht existiert hatte. Sie gründete einen Ausschuss und versuchte, alle existierenden Reitweisen mit an Bord zu nehmen – in Schleswig-Holstein waren das immerhin bis zu 16 verschiedene Organisationen – und hob mit ihrem Team das Landesbreitensportturnier aus der Taufe, mittlerweile besser bekannt als das Pferdefest des Nordens. „Ich wusste, dass der Breitensport das wichtigste Fundament unseres Sportes ist, das war mir im Laufe der Zeit klar geworden. Ich wollte eine Möglichkeit schaffen, bei der sich die verschiedenen Reitweisen darstellen, sich kennenlernen und Berührungsängste abbauen können. Wir haben doch alle dasselbe Ziel: Freude am und mit dem Pferd haben und mit dem Pferd etwas leisten. Die Atmosphäre auf dem Pferdefest ist entspannter als auf üblichen Turnieren:
Die Pferde sind gelassener, die Menschen sind gelassener, selbst deren Hunde sind gelassener… “ Von einem bunten Tag mit 30 verschiedenen Wettbewerben hat sich das Turnier zu einer der größten pferdesportlichen Veranstaltungen im Land entwickelt mit Fahrern, Voltigierern und Reitern, Mounted Games, Ringreitern und Quadrillen, im klassischen, Western-, Tölt-, Barock- und Damensattel, mit Vierbeinern vom Shetlandpony bis zum Shire Horse aus Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen, Mecklenburg Vorpommern und sogar Dänemark. 1.000 Nennungen, 600 Pferde und Ponys, rund 90 Wettbewerbe – das ist das Pferdefest des Nordens mittlerweile. Dieses Jahr fand es zum 26. Mal statt.
Für Mädchen und Frauen
Während ihrer Zeit als Landesjugendwartin arbeitete Ingrid Thomsen entscheidend mit im Ausschuss für internationale Jugendarbeit sowie im Projekt für Mädchen und Frauen der Sportjugend Schleswig-Holstein. Neben der Arbeit im Vorstand des Pferdesportverbandes Schleswig-Holstein, auch als stellvertretende Vorsitzende von 1996 bis 2005, wurde sie in den Vorstand des LSV (1983-1993) gewählt und war Mitbegründerin des Ausschusses „Frauen im Sport“. Ferner war sie als Delegierte im Ausschuss „Natur und Umwelt“ und leitetet den damaligen Ausschuss „Recht, Soziales und Steuern“ des LSV.
Ingrid Thomsen, 1938 in Heilbronn geboren, als junges Mädchen. Hier findet das „Reiten“ noch auf einem Elefant statt.
Ihrem Mann zuliebe lernte Ingrid Thomsen das Segeln, er ihr zuliebe das Reiten.
Pferde und Reiten bedeuten für Ingrid Thomsen Leben, sie sitzt selbst heute mit 85 Jahren noch mehrmals pro Woche im Sattel – hier mit dem damaligen Vorsitzenden des Pferdesportverbandes Schleswig-Holstein, Klaus Buß.
Strukturen aufbrechen
Sie beschreibt die damalige Situation so: „Alle Verbände waren sehr männlich dominiert. Es gab nur wenige Chancen für Frauen, entscheidende Ämter zu besetzen. Frauen waren nicht sichtbar und deshalb wurden immer nur Männer für die Ämter vorgeschlagen. Ich habe sie dazu ermuntert, sich umzuschauen, über den Teller- rand zu blicken. Peu à peu hat sich dann bei jeder weiteren Wahl etwas zu Gunsten der Frauen verändert. Es war ein Aufbrechen der Strukturen.“ Von 1993 bis 2005 gehörte Ingrid Thomsen dem FN-Präsidium an. Sie war die erste Frau, die in das von Männern dominierte Gremium mit Graf Landsberg-Velen an der Spitze aufgenommen wurde. Dabei hatte sie zunächst gezögert, dieses Amt anzutreten. Sie erinnert sich: „Kurz vor meinem ersten Meeting in Warendorf habe ich Fritz Thiedemann bei einer Veranstaltung in Schleswig-Holstein erzählt, dass ich ganz schön nervös bin, dort vor die Runde zu treten. Da sagte er zu mir: ,Denken Sie immer daran, auch ein Präsident ist nackt zur Welt gekommen.‘ Und letzten Endes war für mich wichtig zu erkennen, dass ich nur etwas verändern kann, wenn ich mich auch selbst engagiere.“
Wenn Ingrid Thomsen für etwas kämpfte, dann mit Nachdruck: Dafür legte sie sich auch schon mal mit FN-Präsident Graf Landsberg-Velen an.
Bundesverdienstkreuz: Schleife für die Frau, Nadel für den Mann – so war es damals. Ingrid Thomsen und ihr mittlerweile verstorbener Mann Dierk erhielten beide diese hohe Auszeichnung.
Ihrer Zeit voraus
Ingrid Thomsen versuchte damals, in der Satzung die weiblichen Schreibformen zu ergänzen und brachte einen entsprechenden Antrag ein. Sie bekam viel Gegenwind, auch von Frauen. Die Schreibform ist bis heute unverändert. „Das hat mich aber nie abgehalten, denn steter Tropfen höhlt den Stein. Ich wurde immer in Schubladen gesteckt, ich war die Feministin – aber auch damit konnte ich leben. Ich wollte mehr Frauen in den Verbänden und mit jeder Wahl hat Graf Landsberg-Velen eine Frau mehr ins Präsidium geholt“, sagt sie mit festem Blick und einem Lächeln auf den Lippen. Sie hat stets darauf geachtet, nicht zu polarisieren, sondern diplomatisch und mit Fingerspitzengefühl zu agieren. Beim Einsatz für Frauen und Mädchen gilt für sie das Credo: Alles, was hilft, ist erlaubt. „Ich war immer für die Frauenquote und mit dem Gendern kann ich gut leben. Ich selbst erwähne immer auch die weibliche Schreibweise. Denn unter dem Begriff ‚Reiter‘ fühle ich mich als Reiterin nicht mehr angesprochen.“ Auch beim Deutschen Sportbund (DOSB) hat sich Ingrid Thomsen schon in den 1970er-Jahren für Frauen im Sport eingesetzt, zwar ohne Mandat, aber sie wollte unbedingt, dass der Pferdesport auch im Ausschuss „Frauen im Sport“ des DOSB vertreten war. Dort wurde sie dann schließlich auch für den gesamten Sport in den Deutschen Frauenrat berufen.
Ehrungen über Ehrungen
Ingrid Thomsen hat 40 Jahre Ehrenamt auf dem Buckel, mittlerweile tritt sie kürzer, aber der PSH-Vorsitzende Dieter Medow nennt sie nach wie vor seit fast 25 Jahren „die Geheimwaffe des Verbandes“. Sie ist Ehrenmitglied der FN und des PSH. Für ihr herausragendes Engagement erhielt sie 1989 die Sportplakette des Landes Schleswig-Holstein (Verdienste um den Sport) und 2004 den Elfriede-Kaun-Preis des LSV in Schleswig-Holstein (gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern im Sport). 2002 wurde ihr das Verdienstkreuz am Bande verliehen, 2005 überreichte die FN ihr das Deutsche Reiterkreuz in Gold und vom DOSB wurde sie mit dem Alice- Profé-Preis, dem heutigen „Gleichstellungspreis“, ausgezeichnet. Letzterer wird alljährlich an Personen vergeben, die sich für den Sport von Frauen und Männern einsetzen.
Mutmacherin
Ihr Ziel hat Ingrid Thomsen erreicht, auch wenn ihre Arbeit nicht zu Ende ist. Sie wollte immer ein Netzwerk schaffen, so dass mehr Frauen in die oberen Etagen der Verbände eingebunden werden. Und durch ihren Einsatz hat sie anderen Frauen Mut gemacht, für sich einzustehen. Obgleich ihr das nie so wirklich bewusst war, wie sie sagt. Mit Dierk Thomsen war sie 60 Jahre lang verheiratet. 2020 verstarb er. Gesellschaft leistet Ingrid Thomsen einer ihrer fünf Enkel, der bei ihr wohnt. Ihr Haus sei immer offen für Familie und Freunde, betont sie. Dierk Thomsen, aus vollstem Herzen Segler, nahm seiner Frau zuliebe Reitunterricht, sie lernte für ihn das Segeln. „Um ein so vielschichtiges, umfangreiches Ehrenamt ausüben zu können, setzt es ein großes Verständnis des Partners voraus.“ Die Thomsens könnten vermutlich das einzige Ehepaar in Kiel sein mit zwei Bundesverdienstkreuzen. Dierk Thomsen hatte es für sein Engagement im Segelsport erhalten. Apropos Gleichstellung: Es tut sich sogar noch etwas in punkto Bundesverdienstkreuz. Für das Tragen dieser hohen Auszeichnung gibt es ganz de- taillierte Vorgaben und unterschieden wurde in Schleifen für die Frauen und Nadeln für die Männer. Seit diesem Jahr dürfen sich die Frauen statt mit der Schleife nun auch mit mit der Nadel der Männer schmücken.
Laura Becker
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