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UNESCO Immaterielles Kulturerbe: Die klassische Reitlehre
Für jedes Pferd und jeden Reiter
Die klassische Reitlehre in Deutschland ist jetzt anerkanntes Immaterielles Kulturerbe. Der Berufsreiterverband initiierte die Bewerbung für das bundesweite Verzeichnis der UNESCO. Ein Blick auf unser Kulturgut Reitlehre: ihr Sinn, ihre Geschichte, ihre Alltags- und Zukunftsfähigkeit.
Vier Bilder, eine Gemeinsamkeit: Pferde und Reiter sind nach der klassischen deutschen Reitlehre ausgebildet. Fotos: BBR/Jacques Toffi, Thoms Lehmann/FN-Archiv (3)
Irgendwo im Wald: zwei Reiter traben nebeneinander, die Pferde schwingen über den Rücken. Irgendwo in einer Reithalle: eine Reiterin galoppiert eine saubere Zirkellinie, ihr Pferd korrekt gestellt und gebogen. Irgendwo in einer Arena: ein piaffierendes Pferd, die Hinterhand trägt vorbildlich. Irgendwo zwischen bunten Stangen: ein junges Mädchen richtet sich im Sattel etwas auf, ihr Pferd kommt unmerklich zurück und taxiert sauber den Oxer. Alle haben eine Gemeinsamkeit: Pferde, Reiterinnen und Reiter sind nach der klassischen deutschen Reitlehre ausgebildet. Diese ist seit Anfang des Jahres ein neuer Eintrag im bundesweiten Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der Deutschen UNESCOKommission. Gewürdigt wurde unter anderem, dass die Ausbildungsmethode von Generation zu Generation weitergegeben wird, und dass „der Antrag tierethische Aspekte reflektiert, sich von tierschutzwidrigen Trainingsmethoden distanziert ….“
Die UNESCO-Listen
Was versteht man unter einem immateriellen Kulturerbe? Das können Bräuche sein, Beziehungen, Tänze, Feste und Ähnliches, was von Generation zu Generation mit allem Wissen und Können weitergegeben und gepflegt wird. Die UNESCO fördert dies, indem sie seit 2003 Kulturerbe-Projekte in ein bundesweites Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland oder wahlweise in die internationalen UNESCO-Listen aufnimmt. Im bundesweiten Verzeichnis gibt es bereits mehr als 130 Einträge, wie den Orgelbau, die Helgoländer Dampferbörte oder die Oberammergauer Passionsspiele und jetzt auch die Trakehner Zucht. Die internationale UNESCO-Liste zählt über 600 Einträge. Zu pferdebezogenem Kulturerbe zählen etwa die Reitkunst des französischen Cadre Noir, die Spanische Hofreitschule und die Lipizzanerzucht, die traditionellen Frühlingsriten der kasachischen Pferdezüchter, die traditionelle belgische Methode des Krabbenfischens mit Pferden oder das Ringreiten.

Eine Tradition der Reitlehre, die insbesondere in den deutschen Landgestüten noch gepflegt wird: die Schule über der Erde. Foto: BBR/Landgestüt Warendorf

Auch das ist klassische Reitlehre: die Arbeitam Langzügel. Foto: Antje Jandke
Kultur bewahren
Im Gegensatz zu dem bekannteren UNESCO Weltkultur- oder -naturerbe entspricht das Immaterielle Kulturerbe lebendigen Traditionen, Wissen und Künsten. Das bundesweite Verzeichnis ist somit eine Art Bestandsaufnahme, welche immateriellen Schätze Deutschland zu bieten hat – aktuell sind es 144 Einträge. Wer auf die Liste kommt, entscheiden die Deutsche UNESCO-Kommission und verschiedene staatliche Stellen, zum Beispiel die Kultusministerkonferenz. Mit von der Partie sind unter anderen die Kindergartenidee von Friedrich Fröbel, der Streuobstanbau, die Trakehnerzucht (siehe PM-Forum 9/2022), der Jesenwanger Willibaldsritt (siehe PM-Forum 11-12/2022), die Weinkultur in Deutschland, das Brieftaubenwesen oder die Falknerei. Letztere rüttelte den ehemaligen Präsidenten der Bundesvereinigung der Berufsreiter (BBR), Burkhard Jung, auf: „Eines Abends sah ich im Fernsehen eine Dokumentation über Falknereien und die Ausbildung der Tiere – dann hieß es, dies sei Immaterielles Kulturerbe. Da dachte ich mir: Die klassische Reitlehre hätte das auch verdient“.
Reitlehre für alle
Burkhard Jung, inzwischen BBR-Ehrenpräsident, sagt: „Gutes Reiten ist der beste Tierschutz. Dieser Grundsatz entspringt der klassischen Reitlehre. Mit der Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe würde das deutlich mehr Gewicht bekommen.“ Seiner Meinung nach würde dann auch die pauschale Kritik am Reitsport deutlich schwerer fallen. So machte sich Burkhard Jung mit der BBR-Geschäftsleitung Carolin Lux und dem ganzen Team an die Arbeit eines Antrags an die UNESCO und schloss dabei viele Fachleute mit ein – etwa den Sportpädagogen Eckart Meyners und die internationale Richterin Angelika Frömming. Unterstützung gab es von der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN) und den Haupt- und Landgestüten. Die Ausbilderin, Sportwissenschaftlerin, Journalistin, Buch- und PM-Forum-Autorin Dr. Britta Schöffmann schrieb die Texte für die Anträge. 17 Seiten umfasste der letzte Antrag, der erfolgreich war. Beim Antrag, der erst in Nordrhein-Westfalen und Anfang dieses Jahres bundesweit anerkannt wurde, geht es um die allgemeine Gültigkeit der Reitlehre: für alle Pferde und alle Bereiche der Reiterei. „Damit sind wir sehr glücklich“, kommentiert Jung, der selbst Pferdewirtschaftsmeister ist und in Wilnsdorf im Siegerland einen Reitstall führt. Mit dem Immateriellen Kulturgut-Titel ist für ihn „noch einmal deutlich geworden, wie gut unser Ausbildungssystem ist. Wir Fachleute wissen das längst. Jetzt wollen wir das gemeinsam mit der Deutschen Reiterlichen Vereinigung noch mehr in die Breite streuen. Gemäß unserem Wahlspruch: ‚Dem Pferd verpflichtet, dem Sport verbunden‘.“


Die klassische Reitlehre kann auf jedes Pferd und jeden Reiter angewendet werden, ohne dabei starr zu sein. Die Richtung ist vorgegeben, für die individuelle Gestaltung gibt es unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten. Alles Fotos: Christiane Slawik

Foto: Kiki Beelitz/FN-Archiv

Als Reitmeister früher Jahre gehörte Oskar Maria Stensbeck (1858-1939) zu den bedeutendsten Ausbildern von Berufsreitern – nach ihm ist heute die Plakette benannt, mit der jährlich die besten Pferdewirte und Pferdewirtschaftsmeister mit Schwerpunkt klassische Reitausbildung geehrt werden. Foto: BBR/Wisskirchen, Berlin, entnommen aus „Reiten“ von Oscar M. Stensbeck vom Verlag Paul Parey, 1931, S. 64
Die Reitlehre ist für mich ein Kulturgut, weil …
„… seit über 5.000 Jahren geritten wird und sich seither die Menschen intensiv damit beschäftigen, wie ‚richtiges‘ Reiten auszusehen hat. In den FN-Richtlinien sind all’ die überlieferten ‚richtigen‘ reiterlichen Grundsätze niedergeschrieben, die über Generationen entwickelt wurden. Diese Grundsätze wurden und werden stets um die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse erweitert. Dass sie zum UNESCO Kulturerbe erhoben wurde, zeigt, welchen Stellenwert die klassische Reitlehre weit über Deutschland hinaus genießt. Um unsere FN-Richtlinien beneidet uns die Welt! Sie sind ein wahres Kulturerbe. Für mich persönlich haben sie den Stellenwert der Bibel.“
Christoph Hess, langjähriger Leiter der Persönlichen Mitglieder und FN-Ausbildungsbotschafter.
Ein Hoch aufs Pferd
Hannes Müller, von 1997 bis 2023 Ausbildungsleiter der Deutschen Reitschule in Warendorf, erzählt von einem Buch, das er kürzlich gelesen habe: „Das letzte Jahrhundert der Pferde“ von Autor Ulrich Raulff. Hannes Müllers Fazit: „Pferde waren die Beschleuniger der menschlichen Entwicklung, bis die Maschinen ins Spiel kamen.“ Die Weltgeschichte wäre ohne Pferd anders verlaufen. Hannes Müller findet auch: „Das Kulturgut Pferd ist für die gesamte Gesellschaft wertvoll. Das Pferd ermöglicht uns Menschen das Erleben der Natur, vermittelt im Therapeutischen Reiten die dreidimensionale Bewegungserfahrung, hat eine positive Wirkung auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen ebenso wie von Erwachsenen.“ Pferdeleute lernen Rücksichtnahme, Verantwortung und Zuverlässigkeit. Mit anderen Worten: Pferde bringen uns Kultur im fairen Umgang bei.
Tu Gutes, öffne Stalltore
„Große Teile der Bevölkerung von heute entfernen sich immer mehr von der Natur und der Landwirtschaft. Deshalb ist es wichtig, festzuschreiben, dass es sich bei der klassischen Reitlehre um eine kulturelle Errungenschaft handelt“, mahnt auch Dr. Astrid von Velsen-Zerweck vom Haupt- und Landgestüt Marbach in Baden-Württemberg. So manches Handwerk sei leise ausgestorben. „Das darf uns mit der Reiterei nicht passieren“, sagt die Landstallmeisterin. „Die Reitlehre und das Wissen um die Pferde beruht schließlich auf alten Erkenntnissen. Es sind inzwischen viele Fehler ausgemerzt. Auf der anderen Seite bestätigt sich manches Wissen der Altvorderen.“ Die Landgestüte spielen in der Kulturerbe-Auszeichnung eine wichtige Rolle. Marbach zum Beispiel hat selbst eine 500-jährige Tradition und steht für die Ausbildung von heute: Hier werden Pferde und Reiter ausgebildet, es ist Landesreitschule und Kompetenzzentrum, ein außerschulischer Lernort für Kinder und Jugendliche und Partner von Hochschulen. Die Tore sind für alle offen – und sei es zu den Gestütspara-den im Herbst. „Die Besucher können Fohlen sehen und die tägliche Arbeit beobachten. Es ist ein Ort, der unsere Kultur sichtbar macht“, betont die Landstallmeisterin.

Foto: Jacques Toffi
Die Reitlehre ist für mich ein Kulturgut, weil …
„… sie seit jeher der Gesunderhaltung des Pferdes dient. Oberstes Gebot ist, das Pferd danach auszubilden und ihm damit Gutes zu tun, was die klassische Reitlehre an- strebt.“
Klaus Balkenhol aus Rosendahl/Westfalen, Olympiasieger Dressur, ehemaliger Bundestrainer, Ausbilder und seit 2011 Träger des Titels „Reitmeister“.
Der Clou der Reitlehre
Das Beste an der klassischen Reitlehre bringt die ehemals internationale Turnierrichterin Angelika Frömming auf den Punkt: „Wenn Reiter und Pferd regelkonform ausgebildet sind, kann jeder jedes Pferd reiten – das ist der Clou einer guten Ausbildung.“ Den Beweis liefern heute noch Studentenreitturniere, Berufsreiterchampionate oder die Dressur-Derbys mit Pferdewechsel. „Ein gemeinsames System, das macht doch Sinn!“, findet Angelika Frömming. Klingt so einfach, und doch weiß jeder Reiter zu gut, dass zwischen der Theorie und der Praxis im Sattel Welten liegen können. Angelika Frömming gibt zu: „Die Schwierigkeit bleibt für den Reiter, die korrekte Einwirkung zu lernen und zu beherrschen und in der jeweiligen Situation richtig einzusetzen. Das ist ein Lebenswerk für den Amateur, aber auch für den Top-Reiter. Ein Knöpfchen für gutes Reiten gibt‘s nicht. Reiten bleibt etwas Anspruchsvolles.“



Foto: Stefan Lafrentz
Die Reitlehre ist für mich ein Kulturgut, weil …
„…Menschen und Pferde eine sehr lange gemeinsame Geschichte haben. Außerdem wird die klassische deutsche Reitlehre, basierend auf den Erfahrungen der alten Reitmeister, schon über Generationen weitergegeben und orientiert sich an den natürlichen Anlagen der Pferde.”
Michael Jung aus Horb/Baden-Württemberg, jüngster Träger des Titels „Reitmeister“, Vielseitigkeits-Doppel-Olympiasieger (Einzel).
Geschichte und Entwicklung
Eine der frühesten Reitlehren schrieb der griechische Schriftsteller und Feldherr Xenophon (430–354 v. Chr.). Angelika Frömming fasste in ihrem Buch von 2011 die „Bilder und Fakten zur Entwicklung der Ausbildung von Reiter und Pferd im Dressur- und Springreiten“ zusammen. Über Jahrhunderte hinweg stellt sie Reitmeister wie Grisone, Pluvinel, Steinbrecht und andere vor, samt der Vor- und Nachteile ihrer Lehren. „Bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts galt Reiten nur als eine Leibesübung. Erst mit der Zunahme schriftlicher Reitlehren wurde aus der Leibesübung eine Kunst, die Reitkunst. Im weiteren Verlauf der Jahrhunderte erlangten wissenschaftliche Erkenntnisse eine größere Bedeutung, so dass man sagen kann, dass sich aus der Reitkunst sozusagen eine Reitwissenschaft entwickelte. Sinngemäß wird heute nach der Kulturhistorikerin Prof. Dr. Stefanie Stockhorst Reiten im modernen Denken dann zur Kunst, wenn neben der vollendeten Technik auch die vollendete Harmonie zwischen Mensch und Pferd erkennbar wird.“

Schon 1884 hat Gustav Steinbrecht (1808-1885) in seinem Buch „Gymnasium des Pferdes“ ganz detailliert die gymnastizierende Arbeit von der Remonte bis zum Grand-Prix-Pferd beschrieben. Foto: BBR/nach einem Ölgemälde von Albert Becker

Foto: Stefan Lafrentz
Die Reitlehre ist für mich ein Kulturgut, weil …
„… sie sich über Jahrhunderte entwickelt hat und Gustav Steinbrecht schon 1884 in seinem Buch ‚Gymnasium des Pferdes‘ ganz detailliert die gymnastizierende Arbeit von der Remonte bis zum Grand-Prix-Pferd beschreibt. Bis heute hat sie nichts an Aktualität verloren.”
Hubertus Schmidt aus Etteln/Westfalen, Reitmeister seit 2004, Mannschaftsolympiasieger Dressur.
Heeresdienstvorschrift
Im Galopp durch die Geschichte: Im 19. Jahrhundert stand die Militärreiterei im Vordergrund. 1826 und 1882 kamen die ersten Instruktionen zum Reitunterricht der Kavallerie heraus. Jeder Soldat sollte nach einheitlichen Regeln Reiten lernen können. Bedeutsam dann die Reitvorschrift von 1912 und deren Aktualisierung als Heeresdienstvorschrift (H.Dv. 12) von 1937. Dabei ging es nicht mehr nur um die Fortbewegung des Kavalleristen entlang der Straße, sondern um die Gesunderhaltung eines für jedermann leichtrittigen und leistungsbereiten Pferdes. Die H.Dv. 12 wurde zur Grundlage für die FN-Richtlinien in ihren sechs Bänden, die bis heute regelmäßig aktualisiert werden. Die Richtlinien gelten für alle Reiter und Pferde – egal, in welcher Disziplin oder auf welchem Ausbildungsstand geritten wird. Die Richtlinien geben für die gesamte Ausbildung und für jede Reiteinheit eine Systematik vor und sind damit vergleichbar mit einer Leitplanke: Die Richtung ist vorgegeben, für die individuelle Gestaltung gibt es unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten. „Zugegeben: Die Richtlinien sind etwas schwierig und trocken zu lesen – aber es muss einfach ein Gesamtwerk geben, nach dem ausgebildet und unterrichtet wird. Auch die Fachsprache ist wichtig, sonst hat jeder seine Ausdrucksweise und keiner versteht, was eigentlich gemeint ist“, sagt Angelika Frömming. Die Richtlinien entsprechen der Niederschrift der klassischen Reitlehre in Deutschland – diese wird jedoch weltweit praktiziert. Sie inspirierte das FEI Dressage Handbook zum Richten internationaler Prüfungen. In England heißen deren ähnlichen Richtlinien „The Principles of riding“.
Diskussionen und Dynamik
Zugegeben, so ganz einfach ist es nicht mit der klassischen Reitlehre Irgendwie ist sie auch paradox, denn sie ist zum einen zeitlos und klassisch, zum anderen doch dynamisch. Diskussionen gab und gibt es. Thies Kaspareit, Leiter der FN-Abteilung Aus- bildung, erzählt von einem aktuellen Beispiel: Lange Zeit unterschied man zwischen Dressur- und Leichtem Sitz. Dann kam der Entlastungssitz dazu. Inzwischen unterscheiden wir noch zwischen Spring- und Geländesitz. Für die Richtlinien Band 2, die gerade in der Neuauflage erschienen sind, brachte der Brite Chris Bartle neue Gedanken mit. Chris Bartle war von 2001 bis 2016 Disziplintrainer der deutschen Vielseitigkeitsreiter und beschäftigte sich mit Sitzformen. Thies Kaspareit erzählt: „Der Blick auf den Gelände- sitz ist nochmals differenzierter. Chris Bartle schaut auf die Situation und nennt allein vier bis fünf Varianten: zum Anreiten eines Geländesprungs, für die Landephase, oder wenn es mal kritisch wird – ganz pragmatisch und weniger formell.“ Überhaupt finden neue sportwissenschaftliche Erkenntnisse nach und nach ihren Platz in den Richtlinien: Bewegungstheorien, Biomechanik, sportwissenschaftliche Zusammenhänge, Sportprogramme für diverse Disziplinen.

Foto: Stefan Lafrentz
Die Reitlehre ist für mich ein Kulturgut, weil …
„…eine pferdegerechte Ausbildung die Grundlage der Dressur ist. Es gab sehr viele Methoden und Diskussionen und Anhänger für die schnellere Ausbildung. Meine Dressurauffassung ist es, auf den natürlichen Bewegungsablauf des Pferdes zu achten. Die Grundsätze der klassischen Reitkunst bleiben. Jeder Reiter soll sich mit der Skala der Ausbildung befassen: Takt, Losgelassenheit, Anlehnung, Schwung, Geraderichten und Versammlung”
Ingrid Klimke aus Münster/Westfalen, Reitmeisterin seit 2012, zweifache Mannschaftsolympiasiegerin Vielseitigkeit.
Zukunft als Herausforderung
Moderne Pferde sind auf den ersten Blick einfacher zu reiten als die alten Typen, und sie werden immer sensibler und zum Teil instabiler. „Dann muss man sich erst recht auf die klassische Reitlehre besinnen und diese mit entsprechender Sensibilität umsetzen“, erklärt Thies Kaspareit. Eine weitere Forderung kommt von Angelika Frömming: „Wir müssen uns über die Grenze von Natürlichkeit und der Umformung zum Besonderen bewusst sein.“ Das sieht Hannes Müller ähnlich: „In der sportlichen Auseinandersetzung haben die Möglichkeiten der Ausbildung und der zirzensischen Konditionierung fließende Übergänge – deshalb müssen wir immer die Körpersprache und das Verhalten der Pferde im Auge behalten. Die Schlüsselfrage ist: Bewegt sich das Pferd elastisch durch den Körper?“ Das ist in Zukunft die Herausforderung der klassischen Reitlehre in Deutschland – die weit über den Turniersport und die moderne Sportpferdezucht hinaus ihre universelle Tauglichkeit behält. Hannes Müller möchte das betonen: „Die klassische Reitlehre kann auf jedes Pferd jeglichen Typs und auf jeden Reiter angewendet werden.“
Cornelia Höchstetter
Ein Auszug aus dem Antwortschreiben der Deutschen UNESCO Kommission
Die klassische Reitlehre als Kulturgut
Die Kommissionen der UNESCO und der Kultusministerkonferenz der Länder haben positiv beschieden und die klassische deutsche Reitlehre in das bundesweite Verzeichnis als Immaterielles Kulturerbe aufgenommen. Gewürdigt wird: „… die von Generation zu Generation weitergegebene Ausbildungsmethode der klassischen Reitlehre in Deutschland, bei der das Wissen und Können um die Kulturform heute von eigens ausgebildeten und geschulten Praktizierenden gelehrt wird. Die Praxis wird dabei in Vereinen, Verbänden, Betrieben und Landgestüten sowie im Rahmen von Fachpublikationen und Vorträgen vermittelt. Hervorzuheben ist, dass der Antrag tierethische Aspekte reflektiert, sich von tierschutzwidrigen Trainingsmethoden distanziert und auf Sanktionen wie Reitsperren oder Geldstrafen im Falle von Verfehlungen verweist“ – so steht es im offiziellen Antwortschreiben.
„‘Klassisch‘ steht in diesem Zusammenhang nicht für Begriffe wie alt oder althergebracht, sondern für Begriffe wie überliefert und zeitlos. Die klassische deutsche Reitlehre, so wie sie bis heute überliefert, gelehrt und praktiziert wird, … übernimmt Verantwortung für die Kreatur. Sie orientiert sich an der Natur, das heißt an den Bedürfnissen sowie den natürlichen und individuellen Anlagen des Pferdes, berücksichtigt seine körperlichen Voraussetzungen und sein natürliches Verhalten und ist bei regelkonformer Anwendung artgerecht und gesundheitsfördernd. … Die Ausbildung eines Pferdes nach der klassischen (deutschen) Lehre ist dabei kein ‚Schnell-Lern-System‘, sondern sie zieht sich über Jahre hin – die eines Reiters gar über Jahrzehnte.“
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