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Ausbildungstipp von Christoph Hess: Wenn das Pferd bodenscheu ist

Vierbeiner mit ausgeprägtem Fluchtinstinkt

Pferde sind Fluchttiere und nehmen Gegenstände anders wahr als Menschen. Wie man die Tiere dennoch an ungewohnte Situationen heranführen kann, erläutert Ausbildungsexperte Christoph Hess.

Herdentrieb nutzen: Ist ein Pferd bodenscheu, kann es hilfreich sein, ein sicheres, ruhiges Führpferd vorweg gehen zu lassen. Foto: Thoms Lehmann/FN-Archiv

Frage: Ich haben einen 6-jährigen Vollblutwallach. Als er vor 2 Jahren zu mir kam, war er komplett roh und kannte fast nichts. Wir haben viel am Boden gearbeitet. Mittlerweile ist er im Umgang und an der Hand sehr gelassen, geht gut allein überall mit etc. Aber beim Reiten ist er extrem schreckhaft, springt oft sehr plötzlich zur Seite und mag dann an harmlosen Stellen nicht mehr vorbei. Besonders deutlich zeigt er dieses Verhalten bei am Boden liegenden Gegenständen wie Stangen, Hütchen. Haben Sie einen Tipp für mich, wie ich meinem Pferd unter dem Sattel mehr Vertrauen vermitteln kann?

Zunächst einmal ist es wichtig, dass wir uns als Pferdemenschen immer wieder an die Natur des Pferdes erinnern. Das Verhalten Ihres Pferdes ist absolut nichts Besonderes, sondern typisches Pferdeverhalten. Das Pferd ist ein Fluchttier mit sehr gut ausgeprägten Sinnesorganen. Vieles, was wir Menschen gar nicht wahrnehmen, löst beim Pferd den Fluchtmodus aus. Gerade am Boden liegende, unbekannte Gegenstände werden vom Pferd zunächst als potenziell gefährlich wahrgenommen – man sagt, das Pferd ist bodenscheu. Bei manchen Pferden reichen auch Lichtflecken oder Schatten auf dem Boden aus. Die Reaktion auf diese Wahrnehmung ist dann von Pferd zu Pferd unterschiedlich: Während das eine neugierig hingeht, schnuppert und sich dann entspannt, sucht das andere das Weite und flüchtet. Das ist vollkommen normal und darf auf keinen Fall bestraft werden. Dadurch würden Sie das Vertrauen zwischen Ihnen und Ihrem Pferd aufs Spiel setzen und seine Angst nur verstärken. Stattdessen müssen Sie akzeptieren, dass Ihr Pferd einen besonders stark ausgeprägten Fluchtinstinkt hat und ihm helfen, mehr Vertrauen aufzubauen.

Zu zweit geht es leichter

Wenn Sie sagen, dass Ihr Pferd vor allem unter dem Sattel schreckhaft ist, würde ich Ihnen empfehlen, den Herdentrieb zu nutzen und ein sicheres, ruhiges Führpferd mitzunehmen. Das Führpferd geht bei allen Herausforderungen erst einmal voraus, Sie reiten hinterher. Wenn das gut klappt, versuchen Sie nebeneinander zu bleiben und später dann auch mal selbst vorwegzureiten. Wiederholen Sie die einzelnen Schritte oft genug, bis Sie wirklich merken, dass sich Ihr Pferd entspannt.

Reizüberflutung vermeiden

Nehmen Sie sich dabei jeweils nur eine Herausforderung vor: entweder Sie üben das Reiten über Cavaletti ODER um Hütchen herum – überfordern Sie Ihr Pferd nicht, indem Sie den Reitplatz mit Materialien vollstellen, bis es den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Diese Konfrontationsmethode führt beim Pferd nicht zum gewünschten Erfolg. Nehmen Sie lieber bei jedem Training neue Gegenstände hinzu und arbeiten Sie mit Geduld und Ruhe. Vielleicht ist es sinnvoll, alle Materialien zunächst geführt zu betrachten und erst später aufzusitzen. Stellen Sie sich dabei individuell auf Ihr Pferd ein: Nur Sie können fühlen, wie lange sich Ihr Pferd konzentrieren kann und wann es eine Pause braucht. Loben Sie Ihr Pferd für jeden noch so kleinen Schritt in die richtige Richtung und bleiben Sie ruhig, wenn Ihr Pferd erschrickt.

Die Zügel sollten weich, aber gleichmäßig anstehen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass Ihr Pferd bereit ist, sich an das Gebiss heran zu dehnen und damit die Anlehnung zu suchen. Reiten Sie in dieser Phase häufig mit einer Hand, dann fällt es Ihrem Pferd leichter, sich anzulehnen. Verkürzen Sie die Zügel allmählich und treiben Sie unbedingt gut in den kürzer werdenden Zügel hinein. Die Anlehnung ist das Ergebnis richtigen Reitens „von hinten nach vorne“. Die Zügelhilfen haben in diesem Prozess eine untergeordnete Bedeutung. Wichtig ist, dass Sie Ihr Pferd stets vor sich und an den treibenden Hilfen behalten. Dann fühlen Sie, bis zu welchem Punkt Ihr Pferd losgelassen und gehorsam mitarbeitet und ab wann es ihm schwerfällt.

Der Schlüssel: Durchlässigkeit

In der dressurmäßigen Arbeit ist das oberste Ziel, dass Ihr Pferd Ihre Hilfen jederzeit sicher annimmt und sich auf Sie konzentriert. Reiten Sie dazu viele Übergänge, Wendungen, Schenkelweichen und Zügel-aus-der-Hand-kauen-Lassen. Vor allem das Schenkelweichen kann Ihnen später gute Dienste leisten: Im Schenkelweichen mit Blick weg von unbekannten Gegenständen lassen sich viele Hindernisse meistern. Mit zunehmender Durchlässigkeit lässt meistens ein übermäßiges Scheuen nach, denn nach wie vor ist dressurmäßige Arbeit das beste Sicherheitstraining.

Diplomatie walten lassen

Ein weiterer Tipp ist noch dieser: Bleiben Sie diplomatisch. Konfrontieren Sie Ihr Pferd nicht immer mit Dingen, vor denen es Angst hat, sondern bleiben Sie erst einmal auf der sicheren Seite des Reitplatzes. Arbeiten Sie Ihr Pferd dort auf kleineren Linien und nähern Sie sich dem Hindernis langsam und schrittweise. Spüren Sie aufkommende Spannung oder Scheuen, reiten Sie zunächst darüber hinweg, bis Ihr Pferd sich wieder entspannt. Denken Sie stets daran, dass Losgelassenheit der Schlüssel zum Erfolg ist, und gestalten Sie die Arbeit mit Ihrem Pferd so, dass es körperlich und mental zum Loslassen und Entspannen kommt.

FN-Ausbildungsbotschafter Christoph Hess Foto: FN-Archiv

Ihre Frage an Christoph Hess

Sie haben ein Ausbildungsproblem und möchten professionellen Rat? Dann schicken Sie uns Ihre Frage an FN-Ausbildungsbotschafter Christoph Hess. Schildern Sie Ihre Schwierigkeiten beim Reiten kurz und bündig, die Redaktion wählt die Beiträge für die Veröffentlichung aus. Wenn Sie ein gutes, druckfähiges Foto haben, können Sie dies selbstverständlich mitschicken. Zuschriften bitte per E-Mail an pm-forum@fn-dokr.de.

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