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Im Blick: Traditionskutschen

„Die Yachten der Straßen“

Auf hoher See schaukeln hundertjährige Traditionsschiffe, auf der Straße boomen die Oldtimer-Treffen. Unter Pferdefreunden spannt man die Vierbeiner vor historische Kutschen. Ausfahrten und Wettbewerbe der Traditionsfahrer begeistern Teilnehmer wie Zuschauer. Technik und Eleganz – darüber erzählen Dr. Andres Furger und Heinz Scheidel.

Publikumsmagnet: Ausfahrten und Wettbewerbe traditioneller Gespanne begeistern Zuschauer und Fahrer gleichermaßen. Foto: Cornelia Höchstetter

Angefangen hat alles mit Fjordpferdestute Susi. „Als Bub habe ich meine Eltern jahrelang um ein Pony angebettelt, das ich dann mit 14 Jahren bekommen habe“, erzählt Heinz Scheidel, 77 Jahre alt. Susi sollte eine Kutsche ziehen, aus einer wurden bald viele. Der Baubranchen-Unternehmer (Diringer&Scheidel) aus Mannheim besitzt heute mit etwa 600 Wagen die weltweit größte Privatsammlung an Kutschen – vom Bauern- bis zum kaiserlichen Galawagen. Die Persönlichen Mitglieder der FN dürfen bei PM-Exkursionen immer mal wieder Führungen durch die Sammlung genießen. „Kutsche fahren hat genau wie Jagdreiten jahrzehntelang mein Lebensgefühl bestimmt“, schwärmt er heute und fährt sonntags gerne mit seinen Schweren Warmblütern.

Nostalgie und Lebensgefühl

So wie Heinz Scheidel geht es vielen. Verschiedenste Fortbewegungsmittel längst vergangener Zeiten finden heute immer mehr Freunde: Oldtimer-Rallyes sind im Trend, an den Küsten locken Museumshäfen wie Greifswald oder Carolinensiel neugierige Menschen zu alten Holzschiffen. So ähnlich ist es auch mit Traditionskutschen: Wo Ausfahrten oder Wettbewerbe stattfinden, wenn zu den Hengstparaden der Landgestüte die historischen Kutschen durch die Arenen rollen, wenn beim CHIO Aachen alle zwei Jahre das Traditionsfahren den Soerser Sonntag prägt, dann staunen Reiter, Pferdefreunde und auch Menschen, die sonst wenig mit Pferden zu tun haben. Mensch, Tier und Technik, Handwerkskunst, Design und Eleganz von Gestern – das ist lebendige Nostalgie. Das Traditionsfahren mit den Veranstaltungen hat sich vor etwa 50 Jahren abgespalten vom FEI-Fahrsport. Erste Kutschenclubs haben sich jedoch bereits gegründet, als das Automobil auf- kam. Der Historiker Dr. Andres Furger erklärt das: „Es ist ein allgemein kulturelles Phänomen: Wenn man merkt, dass Schönes und Liebgewonnenes verschwinden, dann wird es versportlicht. So gründeten Adelige und Sport- begeisterte den ersten Kutschenclub Deutschlands in Berlin.

Wenn vor dem einachsigen Cabriolet ein Friese mit Knieaktion trabt oder vier Lipizzaner einen schicken Landauer ziehen, ist das ein Blickfang. „Für mich ist es die Eleganz, die Technik. Es geht um das Lebensgefühl der damaligen Zeit, alles war etwas gelassener. Ich liebe es, wenn wir durch die Auen und Wälder fahren und die Natur genießen“, beschreibt Heinz Scheidel seine Leidenschaft für historische Kutschen.

Clubfahrer: organisierte Tradition

Es gibt weltweit verschiedenste Clubs und Verbände, die sich mittlerweile um mehr Zusammenarbeit bemühen und das Verbindende betonen wollen. Etwa die AIAT – Association Internationale d’Attelage de Tradition, übersetzt: internationaler Verband für Traditions-Fahren. In Deutschland gibt es eine eigene Untergruppe (aiat deutschland.com), deren Vorstand leiten Josef Steigenberger aus dem bayerischen Bernried sowie Dorothea von Eberhardt aus Hamburg. Dann gründete sich 2016
der Deutsche Traditions-Fahrerverband (DTV) als bundesweiter Zusammenschluss. Das Ziel ist, das Wissen um die traditionelle Fahrkultur zu bewahren, zu fördern, zu vermitteln und zu vertiefen (siehe Infokasten). Der DTV gehört zur Fachgruppe Fahren im Deutschen Reiter- und Fahrerverband e.V.. Gründungspräsident war Siegward Tesch aus Wiehl, der ebenfalls eine Sammlung pflegt, die vor allem auf Sportwagen ausgerichtet ist. Als kaum zu übertreffen gelten seine Bilder mit Gespann- und Kutschenmotiven (editiontesch.de). Besichtigungen sind nach Anmeldung möglich, in der Regel führt Siegward Tesch die Führungen selbst durch. Seit Februar 2024 ist der ehemalige Viererzug-Championatsfahrer Peter Tischer aus Neu-Isenburg der Präsident des DTV. Sein Stellvertreter ist der eben zitierte Historiker Dr. Andres Furger, ein Schweizer, der in Frankreich lebt. Er war 30 Jahre alt, als er zum ersten Mal mit Kutschen und Pferden zu tun hatte: „Als Historiker bekam ich die Aufgabe, ein Kutschenmuseum in Basel aufzubauen – ich war fasziniert, dass man ein technisches Objekt mit vier Rädern und darauf einer Kiste mit zwei Bänken so elegant ausführen kann“.

Andres Furger lernte erst Kutschenfahren, dann Reiten und heute hat er drei portugiesische Lusitanos zuhause. Zum DTV kam er als Turnierrichter – als Historiker und Archäologe publiziert er viel über Kutschen. Kein Wunder, treffen sich Andres Furger und Heinz Scheidel gerne mal ein Wochenende zum Fachsimpeln. Gemeinsam haben sie Bücher geschrieben, etwa den 358-Seiten dicken Katalog über die Scheidelsche Kutschensammlung, „Der Überblick: Fuhrwerke, Wagen, Schlitten, Pferdegeschirre, Kinderwelt, Reiten, Accessoires und Dokumente“.

Alte Kutschen, junger Verband

Der „Deutscher Traditionsfahrer Verband e.V.“ – kurz „DTV“ – hat sich zum Ziel gesetzt, das Wissen um die traditionelle Fahrkultur zu bewahren, zu fördern, zu vermitteln und zu vertiefen. Schwerpunkte der Verbandsarbeit sind die Beratung und Schulung der Mitglieder, die Aus- und Weiterbildung von Richtern, ein einheitliches, nationales Reglement sowie die Werbung und Öffentlichkeitsarbeit für das Traditionsfahren. Außerdem sollen Veranstalter unterstützt sowie eigene Veranstaltungen durchgeführt werden.

  • 9. bis 11. August 2024: CAIT im Haupt- und Landgestüt Neustadt (Dosse)
  • 16. bis 18. August 2024: CAIT auf Schloss Kühlenfels/Franken
  • 30. August bis 1. September: CAIT im Landgestüt Celle

tv-tradition.de

Sammlung alter Schätze

Dass alte Kutschen echte Schätze sind, die man bewahren sollte, das verstand Heinz Scheidel schon als Jugendlicher. Die erste Kutsche für Fjordpferd Susi entdeckte er auf einem Hofgut bei einem Grafen. Nicht schüchtern, hat der Junge selbst per Telefon angerufen, um über einen Kauf zu verhandeln. Es war ein sogenannter „Korb-Duc“ von 1910, ein leichter vierrädiger Wagen. Er habe sich bei vielen Leuten über Kutschen erkundigt, Fragen gestellt – „innerhalb von einem weiteren Jahr hatte ich dann fünf bis zehn Kutschen gekauft.“ Damals wie heute begeistern ihn die Handwerkskunst und, wie viele Berufsfelder an der Herstellung einer Kutsche beteiligt sind. „Ich habe Freunde gefunden, die ähnlich dachten wie ich, ich habe Literatur über Wagenbauer verschlungen, habe zielgerichtet Kutschen verschiedener Wagenbauer gesucht, ging auf Reisen nach Frankreich und England, weil dort die Wertschätzung antiker Waren größer war als in Deutschland und habe viel gekauft.

So mache ich das seit meinem 15. Lebensjahr, also 62 Jahre lang“, erzählt der Besitzer, dessen Sammlung vom einfachen Bauernwagen zur Gala-Kutsche aus Königs- und Kaiserhäusern reicht, inklusive gewerblicher Wagen: Milchwagen, Metzgerwagen, Eiswagen. „Dazu gehört eine eigene Werkstatt für die Restaurierung, Ausstellungen rund um das Pferd, weil auch meine Frau genauso pferdeverrückt ist.“ Im Schnitt finden im Jahr etwa 40 bis 50 Besuche auf den museumsgleichen 9.000 Quadratmetern statt. „Wir möchten den Leuten zeigen, wie früher in den Städten der Verkehr aussah“, sagt Heinz Scheidel.

Besitzt die größte Privatsammlung an Kutschen: Heinz Scheidel nennt rund 600 Wagen sein Eigen. Foto: privat

Historiker Dr. Andres Furger weiß um die Faszination von Kutschen. Foto: privat

Die Liebe zum Detail ist den Traditionskutschen anzusehen. Foto: Alexandra Lotz

Im Wandel der Zeit

So wie sich Verkehr und Technik in den Jahrhunderten veränderten, so wandelte sich die Pferdezucht vom reinen Nutztier zu sportlicheren Pferden. In der Hochblüte der Reitkunst, im Barock, waren die Fahrpferde entsprechend edel. Im 19. Jahrhundert war die Palette der Fahrpferde extrem breit: von schwer bis leicht. Dr. Andres Furger
schreibt: „Das Pferd war in der Kultur- und Technikgeschichte der Menschheit bis um 1900 kulturgeschichtlich ungleich wichtiger als wir uns das heute vorstellen“. Er begründet auch, dass das Exterieur der Pferde wichtig war, weil: „Der Auftritt in einem Wagen hatte in allen Zeiten mehr mit Repräsentation zu tun als der im Sattel.“ Zudem brauchte man ähnliche Pferde für die Mehrspänner, die ja von Größe, Statur und Farbe zusammenpassen sollten. Das hatte schon einen Einfluss in der Zucht. Je besser die Straßen, desto leichter wurden die Kutschen, umso schneller oder ausdauernder die Pferde. „Die Sportkutschen um 1900 wurden tatsächlich als die Yachten der Straßen bezeichnet. Die beiden Sportarten hatten um 1900 einen ähnlichen Stellenwert.“ In dieser Zeit war der Kutschen-Hype am größten. So stammen viele Kutschen der Traditionsfahrer von um 1900. An die Tradition knüpft Heinz Scheidel an: „2018 und 2019 habe ich in Iffezheim auf der Galoppbahn während der Rennwoche Coaches organisiert, also historische Wagen. Früher ist die Gesellschaft auch mit dem Wagen zur Rennwoche gefahren. Wir haben das wieder aufleben lassen, mit Picknick, in entsprechend historischer Kleidung, mit Zylinder – es geht um einen gewissen Lebensstil.“ Das Gefühl, in einer historischen Kutsche zu sitzen, würde man mit geschlossenen Augen spüren. Scheidel meint sogar erkennen zu können, ob der Wagen von einem guten Wagenbauer stamme.

Konservieren oder restaurieren?

Was den Erhalt der Kutschen angeht, gibt es zwei Möglichkeiten: Konservierung bedeutet, dass man die Substanz erhält und nicht alles erneuert. Restaurierung heißt, man greift so stark ein, dass die Kutsche aussieht wie direkt vom Wagenbauer gekauft. „Heute erreichen konservierte Kutschen einen höheren Preis als solche, die stark restauriert sind“, sagt Andres Furger. Die alten Kutschen hätten allerdings einen Wertverfall wie antike Möbel erlebt. „Heute können Sie für wenige tausend Euro eine sehr schöne Kut- sche kaufen.“ Die ist dann auch einsatzbereit. In Deutschland gibt es drei große Händler, die ein großes Angebot haben, mit je 50 bis 100 Wagen. Stichwort Gebrauchtwagen und Autohändler: „Leider muss man da auch ein bisschen aufpassen. Da gibt’s alles, deshalb überlegen wir vom DTV, dass wir einen Wagenpass entwickeln, eine Identitätskarte für alte Kutschen. Vorbild ist die Oldtimerszene.“

Bei Traditions-Fahrturnieren gibt es drei Prüfungsteile: Neben der Präsentation des Gesamtbildes des Gespanns und dem Kegelfahren muss eine 20 Kilometer lange Ausfahrt gemeistert werden. Foto: Nicole und Rainer Janssen

Vor bedeutender Kulisse: Der Deutsche Traditions-Fahrerverband (DTV) veranstaltet auch Turniere auf Landgestüten – hier in Redefin. Foto: Jacques Toffi

Zu den traditionellen Kutschen gehört auch historische Kleidung – es geht um einen gewissen Lebensstil. Foto: Lena Tiefel

Vielfalt garantiert: Bei den Veranstaltungen werden verschiedene Pferderassen, Kutschen und Anspannungsarten gezeigt. Foto: Jacques Toffi

Gelebte Vielfalt

„Wir wollen verschiedene Pferderassen zeigen, verschiedene Kutschen und verschiedene Anspannungsarten“, sagt Andres Furger. Schwere Warmblüter sind sehr verbreitet, Lipizzaner, Friesen, Nonius, Hackneys, ländliche Rassen wie Huzulen und Freiberger, oder Kaltblutrassen. „Wenn 20 bis 30 Teilnehmer kommen, sieht das Publikum etwa zehn verschiedene Pferderassen. Die Richter loben das auch während der Präsentation, wenn jemand noch seltene Pferderassen pflegt“, so beschreibt Furger die Traditions wettbewerbe.

Prüfung in drei Teilen

Traditionsfahr-Turniere bestehen aus drei Prüfungsteilen: Zu Beginn die Präsentation des Gesamtbildes: Wie gut sind die Pferde hergerichtet, geputzt, ist es eine geeignete Pferderasse, passt das zur Kutsche? Bewertet wird Originalität, die Kutsche selber und wie die Leute gekleidet sind. Ein Kommentator erklärt die Equipage – Pferd, Kutsche und Teilnehmer auf der Kutsche. Die zweite Prüfung ist eine Ausfahrt, um die 20 Kilometer lang, unterwegs sind Geschicklichkeitsprüfungen abzulegen: Eng wenden, Rückwärts richten – ähnlich wie bei Oldtimerprüfungen. Der dritte Teil ist ein Kegelfahren. Hier werden die Kegel etwa 30 Zentimeter breiter gesetzt als die Spuren sind, und dann geht es auf Zeit. Zwischen Frühjahr und Herbst gibt es etwa alle zwei Wochen irgendwo ein solches Turnier. Der DTV veranstaltet in diesem Jahr unter anderem in den Landgestüten Neustadt an der Dosse und Celle internationale Wettbewerbe (CAIT – Concours d‘Attelage International de Tradition). „Deutschland hat den Riesenvorteil,
dass es noch Staatsgestüte gibt“, schwärmt Furger. „Die Infrastruktur ist gewaltig und mit solchen Veranstaltungen holt man wieder ein Publikum in die Gestüte.

Museen und Sammlungen in Deutschland

Ein kleiner Auszug der vielen Kutschenmuseen und -sammlungen:

  • Wagen- und Schlittensammlung auf der Veste Coburg, Institut der Coburger Landesstiftung, 96450 Coburg, kunstsammlungen-coburg.de
  • Das Museum für Kutschen, Chaisen, Karren in Heidenheim an der Brenz ist eine Außenstelle des Württembergischen Landesmuseums. Schloss Hellenstein, 89522 Heidenheim, heidenheim.de
  • Kutschenremise mit über 60 Stadt- und Sportkutschen von Siegwart Tesch, Römerstraße 37, 51674 Wiehl, editiontesch.de
  • Kutschensammlung Heinz Scheidel, Angelstraße 41, 68199 Mannheim, Besichtigung nur nach Vereinbarung, Tel. 0621 8607333

Weitere Infos: andresfurger.ch

Wenn sich ein Fünfspänner in Bewegung setzt, ist das ein beeindruckendes Bild für Zuschauer. Foto: Marianne Schwöbel

Beifahrer gesucht!

Wer jetzt auf den Geschmack gekommen ist, muss weder Pferd noch Wagen haben, um in die Szene reinzuschnuppern. Die Öffentlichkeits-Beauftragte im DTV heißt Alexandra Lotz und weiß: „Viele Fahrer suchen Beifahrer!“ Ein guter und günstiger Einstieg – „da verbringt man einfach mal ein paar Urlaubstage nicht auf der Insel, sondern auf Traditionsturnieren“. So hat es Alexandra Lotz gemacht, das schöne Ambiente ist gewiss. Anfangs dachte sie: „Fahren macht man, wenn man nicht mehr Reiten kann.“

Weit gefehlt: Sie entdeckte auf dem tschechischen Nationalgestüt Kladruby nad Labem die Welt des Fahrens völlig neu. „Ich bewundere die Leichtigkeit und das Selbst- verständnis der Fahrer, die in Südost-Europa einen ganz anderen Stellenwert genießen als bei uns“, erzählt sie. So kam sie zu einem Spitzenpferd aus einem Viererzug. Ein Kladruber-Wallach ist ihrer. Die eigene Traditions- kutsche muss noch warten. „Aber da fast alle Traditionsfahrer Kutschen sammeln, ist ein Einspänner meist dabei. Und wenn man sich gut kennt und das Vertrauen genießt, darf man sich auch mal einen Wagen ausleihen“. Es gibt also viele Wege, die Welt der traditionellen Gespanne zu teilen.

Cornelia Höchstetter

Das Wissen um die traditionelle Fahrkultur wird durch verschiedene Veranstaltungen bewahrt, gefördert und begeisterten Zuschauern vermittelt. Foto: Cornelia Höchstetter

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