Vorheriger Artikel

Ausgabe 07/2022
Persönlichkeiten der Pferdeszene: Wolfgang Brinkmann

Nächster Artikel

Ausgabe 07/2022
10 Tipps für mehr Kadenz

Ausrüstung im Pferdesport

Mit Sicherheit mehr Spaß am Reiten

Es ist unbestritten: Eine gute Grundausbildung für Pferd und Reiter ist schon mal die halbe Miete in Sachen Sicherheit. Dennoch ist Reiten ein nicht komplett ungefährlicher Sport – hier treffen zwei Individuen aufeinander, eines davon mit ausgeprägtem Fluchtinstinkt. Neben der Ausbildung von beiden Parteien und einem korrekten Reitersitz ist die richtige Ausrüstung essenziell, um das Risiko für Pferd und Reiter zu minimieren. Die Fülle der auf dem Markt angebotenen Sicherheitsartikel führt dabei allerdings oftmals zu Verwirrung.

Wer Köpfchen hat, setzt auf Helm. Am besten auf einen mit modernem MIPS-System. Foto: Thoms Lehmann/FN-Archiv

Reiten zählt zu den beliebtesten Sportarten überhaupt, rund 2,3 Millionen Reiter gibt es in Deutschland, die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) bildet den weltweit größten Pferdesportverband. Laut der Gesellschaft für orthopädisch-traumatologische Sportmedizin (GOTS) e.V. ereignen sich jährlich rund 40.000 Reitunfälle, die ärztlich behandelt werden müssen. Die Dunkelziffer ohne ärztliche Behandlung wird weitaus höher vermutet. Umso wichtiger, dieses Risiko durch die entsprechende Ausrüstung zu minimieren oder wenigstens abzumildern. Neben dem passiven Schutz kann aber auch durch den korrekten Umgang mit dem Pferd, durch Erziehung und Haltung aktiv etwas für die Sicherheit getan werden. „Viele Verletzungen und kleinere Unfälle passieren zwar in erster Linie bei Reitanfängern, aber auch langjährige Reiter sind nicht davor gefeit. Man wird irgendwann betriebsblind“, erklärt Dr. Julia Schmidt, selbst aktive Reiterin, Orthopädin und Unfallchirurgin. „Das Bewusstsein zum Schutz und Risiko ist in den letzten Jahren um einiges besser geworden, aber die Prophylaxe lässt häufig noch zu wünschen übrig – beim täglichen Umgang mit dem Pferd verliert man leicht die Gefahr aus dem Auge. Das beginnt beim Longieren ohne Handschuhe, das Führen ohne Strick oder Hineinreiten in die Stallgasse“, erklärt die Medizinerin, die ebenfalls als Verbandsärztin des Landesverbandes der Reit- und Fahrvereine Hamburg tätig ist.

Reithelme: Mit „zweiter Schale“ am besten

Das Bewusstsein zum Tragen von Reithelmen hat nicht zuletzt durch die Neuerung des FEI-Reglements enorm zugenommen, seitdem ist das Reiten mit Zylindern nun auch international untersagt. „Und das ist auch gut so“, meint Dr. Julia Schmidt. „Reiter, die in der Öffentlichkeit stehen, tragen einfach eine gewisse Verantwortung, sie haben Vorbildfunktion. Dennoch werden auch in bekannten Ausbildungs- und Turnierställen Reithelme eher sparsam aufgesetzt – und dabei ist ein Helm einfach unglaublich wichtig!“, sagt die Reiterin und Medizinerin. Besonders gefährlich ist an einem Sturz die abrupte Abbremsbewegung beim Aufprall, „Dezelerationstrauma“ genannt. Hinzu kommt die Gefahr von Rotationskomponenten, die zu Verletzungen an den Nervenfasern führen können.

Aktuelle Forschungen hinsichtlich der neuen Generation von Reithelmen setzen hier an: „Besonders gefährlich sind Blutungen im Gehirn, die dann zu einem Hirndrucksyndrom führen können. Die Entwicklung des MIPSSystems soll diese Kräfte minimieren. MIPS steht für ‚Multi Directional Impact Protection System‘.

Klassische Helme absorbieren am besten statische bzw. gerade Schläge, die unter rechtem Winkel auftreffen, und bei denen keine Rotationskraft auftritt. Dieser Sturzmechanismus ist aber selten isoliert der Fall. Die MIPS-Helme haben in der Außenschale des Helmes eine zweite Schale montiert, die direkt am Kopf liegt und die Rotationskräfte relativieren. Sie müssen aber zum optimalen Schutz perfekt passen, hier ist eine professionelle Beratung beim Händler erforderlich“, erklärt Dr. Julia Schmidt, die in Hamburg eine spezielle Sprechstunde für Reiter anbietet.

Nicht jeder Sturz vom Pferd ist ein Unfall. Funktionale Ausrüstung ist einer von mehreren Bausteinen, die im Fall der Fälle helfen, Schlimmeres zu verhindern. Foto: Christiane Slawik

Schuhwerk: Nur mit Absatz in den Sattel

Festes Schuhwerk, knöchelhoch und mit Absatz: Dadurch wird der Knöchel stabilisiert, die Beine liegen ruhiger und ein Durchrutschen des Fußes durch den Bügel wird verhindert. Neben klassischen Reitstiefeln können auch Stiefeletten beim Reiten getragen werden. Entscheidend hierbei ist aber der Schutz der Waden, die ohne entsprechenden Besatz der Reithose oder Chaps leicht in den Bügelschlaufen eingeklemmt werden können. Sporen müssen so angelegt sein, dass sie nicht verrutschen und die Flexibilität des Fußes hemmen. Neben geeigneten Reitschuhen und -stiefeln sollte festes Schuhwerk auch im Umgang mit dem Pferd Usus sein, um Verletzungen zu minimieren.

Oft gesehen, vermeintlich normal und doch leichtsinnig: Führen ohne Handschuhe und Schuhwerk, das nicht über den Knöchel reicht, birgt ein hohes Verletzungsrisiko. Foto: Stefan Lafrentz

Der klassische Fillis-Steigbügel ist auch mit Blick auf die Sicherheit nach wie vor eine gute Wahl. Wichtig ist, dass das zum Reiten verwendete Schuhwerk immer über den Knöchel geht und einen kleinen Absatz hat. Foto: Stefan Lafrentz/FN-Archiv

Sicherheitswesten: Komfort und Schutz?

Brustprotektor, Rückenprotektor, Airbag- Weste – die Auswahl ist groß, der mitgekaufte Schutz unterscheidet sich jedoch. „Je nach Westenart sind Wirbelsäule, Rippen, Brustwirbelsäule und obere Lendenwirbelsäule zwar geschützt, untere Lendenwirbelsäule, Nacken und die inneren Organe allerdings gar nicht bis mangelhaft“, resümiert Sportmedizinerin Dr. Julia Schmidt. Der Schutzfaktor von Sicherheitswesten wird in Level 1 bis 3 angegeben.

Level 1: Geringer Schutz – Protektor schützt die Wirbelsäule und meist das Steißbein, jedoch kaum Schutz für Rippen und Brustkorb.

Level 2: Teilschutz – Protektor schützt erweiterte Wirbelsäule mit verstärkter Polsterung an Brustkorb und Rippen. Nur unter gesicherten Reitbedingungen empfohlen.

Level 3: Hoher Schutz – vollständiger Schutz der Wirbelsäule mit oberer Lendenwirbelsäule, der Rippen, Brustwirbelsäule und des Steißbeins. Verpflichtend beim Start an Vielseitigkeitsturnieren.

Sicherheitswesten sind für die Teilnahme an Geländeprüfungen aller Art vorgeschrieben. Zusätzlichen Schutz bietet eine Airbag- Weste. Foto: Stefan Lafrentz/FN-Archiv

Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass vom Schutzfaktor her eigentlich nur zu Westen Level 3 gegriffen werden sollte, denn gesicherte Reitbedingungen gibt es quasi nicht. Zusätzlichen Schutz bietet eine Airbag-Weste. Diese löst allerdings nur aus, wenn sich Pferd und Reiter trennen. Bei Überrollstürzen hingegen erfolgt die Trennung und somit das Auslösen des Mechanismus deutlich zu spät. Neue Forschungen setzen auf nicht mechanische Auslösemechanismen, die sich zum Beispiel an der Rückenwölbung des Pferdes orientieren.

Steigbügel: Trends hinterfragen

Steigbügel spielen bei der Sicherheit des Reiters eine wichtige Rolle. Unfälle, bei denen der Reiter nach einem Sturz im Steigbügel hängenbleibt, sind keine Seltenheit. Da wundert es auch nicht, dass sich neben den klassischen Fillis-Steigbügeln eine breite Anzahl vermeintlich sicherer Systeme in allen Farben, mit futuristischem Design und verschiedenen „Sicherheitsmechanismen“ etabliert hat. Doch so schick die Bügel auch sein mögen, sie können über Leben und Tod entscheiden. Der Arbeitskreis „Steigbügel“ hat sich als Antwort auf den wachsenden Markt gebildet und Richtlinien und Empfehlungen für die Bügel auf den Weg gebracht. „Entscheidend ist, dass sich der Reiter im Bügel bewegen kann, er muss seine Fußstellung umstellen und anpassen können, nur so kann ein ausbalancierter Sitz in jeder Lage gewährleistet werden“, resümiert Andrea Winkler, FN-Abteilung Ausbildung. Im Notfall muss der Reiter sicher und schnell mit seinem Fuß aus dem Steigbügel gelangen. Flexible Seiten oder einseitig mit Gummibändern bespannte Bügel können ein Verkanten des Fußes im Bügel bei einem Sturz minimieren.

Einige Systeme werben aber gar für ein Klick- oder Magnetsystem, mit dem der Fuß im Steigbügel an Position gehalten werden soll. „Solche Systeme sind von uns abgelehnt worden und damit auch nicht LPO-zulässig. Durch den ständigen Bügelkontakt kann der Reiter nicht mehr flexibel genug reagieren und klebt quasi am Bügel. Ein schnelles Lösen vom Steigbügel zum Beispiel in kritischen Situationen ist beinahe nicht mehr möglich, damit ist die Gefahr viel höher als in einem geschlossenen Bügel“, erklärt Andrea Winkler. Auch die Trittfläche selbst spielt eine entscheidende Rolle, diese ist aber eher personenbezogen: breite Auflagen oder flache, wenig Grip oder viel – alles eine Sache des Reitgefühls. „Neben den Steigbügeln selbst ist auch die Aufhängung der Steigbügelriemen, das Bügelschloss, ein Sicherheitsfaktor. Dieses sollte immer geöffnet oder zumindest sehr leichtgängig sein, damit sich im Fall der Fälle der gesamte Steigbügel mit Riemen vom Sattel lösen kann“, appelliert die Expertin für Ausrüstung.

Das Bügelschloss sollte immer geöffnet oder zumindest sehr leichtgängig sein. Foto: Thoms Lehmann/FN-Archiv

Zum Führen und Anbinden gibt es unterschiedliche Stricke: Anbinden bitte nur mit Panikhaken, Führen hingegen mit Karabinerhaken. Foto: Thoms Lehmann/FN-Archiv

Stricke: Zum Führen und Anbinden

Gefahrenpotential birgt auch – sowohl für den Reiter als auch das Pferd – das Führen und Anbinden. Zur Grundausrüstung eines jeden Pferdes und zur Grundausbildung jedes Reiters gehört deshalb das Wissen um die korrekten Stricke und Öffnungsmechanismen. Es gilt: zum Anbinden Strick mit Panikhaken, zum Führen Strick mit Karabinerhaken. Das hat Gründe: Verletzungen durch angebundene Pferde sind sehr häufig. Das Fluchttier Pferd zerrt meist ohne Rücksicht auf Verluste am Strick, wenn es in Panik gerät. Der Gegendruck erhöht dabei die Panik zusätzlich und kann enorme Schäden am Knochengerüst, Genick und den Weichteilen wie Schleimbeuteln verursachen. Beinahe jährlich werden neue Innovationen auf diesem Gebiet vorgestellt und prämiert. Die einfachste Möglichkeit bietet ein zwischengeschaltetes zusätzliches Band, für das weit weniger Kraft aufgewendet werden muss, um es zu zerreißen. Alternativen sind Panikschlaufen, die durch Klettverschluss zu mehr Sicherheit beitragen, Gummiclips oder spezielle Vorrichtungen, die dem Pferd bei Druck automatisch mehr Strick nachgeben, wodurch sich die meisten Pferde schneller wieder beruhigen. „Anbinden sollte nur unter Aufsicht erfolgen und gehört zur Grundausbildung des Pferdes“, resümiert Andrea Winkler. „Mit entsprechender Gewöhnung, Erziehung und Geduld kann so Verletzungen vorgebeugt werden“.

Halfter, Decken und Gurte

Doch auch ohne Reiter sind Unfälle durch falsche Ausrüstung keine Seltenheit. Das Pferd verheddert sich mit dem Halfter an Zaun oder Baum, es bleibt beim Wälzen in den Deckengurten hängen oder die Decken verrutschen beim Toben so stark, dass das Pferd in seiner Bewegung eingeschränkt wird. Daher empfiehlt sich beim Weidegang, das Halfter abzunehmen. Spezielle Weide- oder Sicherheitshalfter bieten Sicherheitsschnallen, die sich bei Druck öffnen, Klettverschlüsse oder sogar Sollbruchstellen. Gerade Verletzungen am Kopf und Nackenbereich können langfristige und schwerwiegende Folgen nach sich ziehen. Verbleibt das Halfter am Pferdekopf, muss es passgenau sitzen und darf nicht verrutschen. Wenn Decken von Produktion aus kein zusätzliches Sicherheitsfeature aufweisen, können Beinschlaufen, die den Halt der Decke verbessern, nachgerüstet werden. Ebenfalls erhältlich sind bereits Gummischnallen, die zwischen den üblichen Verschlüssen (sowohl Karabiner als auch T-Verschluss) angebracht werden: Verheddert sich das Pferd in den Gurten, reißt das Gummi und das Pferd kommt frei.

Alles, was am Pferd verbleibt, stellt beim Freilauf ein Verletzungsrisiko dar. Das gilt auch für Decken, die insbesondere beim Wälzen zur Gefahr werden können. Mit Sicherheitsfeatures lassen sich Sollbruchstellen nachrüsten. Foto: Christiane Slawik

Sicherheitsrisiko Transport

Beim Transport von Pferden kommen durch die Beteiligung am Straßenverkehr weitere Risiken hinzu. Das gilt nicht nur für das Ver- und Entladen, sondern auch für den eigentlichen Transport. Festes Schuhwerk, Handschuhe und eine Hilfsperson bieten die Grundvoraussetzungen für sicheres Auf- oder Abladen des Pferdes.

Festes Schuhwerk, Handschuhe und eine Hilfsperson bieten die Grundvoraussetzungen für sicheres Aufoder Abladen des Pferdes. Foto: Jana Gerstenkorn/FN-Archiv

Nicht nur das Zaumzeug, alle Ausrüstungsgegenstände von Pferd und Reiter sollten gut gepflegt und regelmäßig auf möglichen Verschleiß hin kontrolliert werden. Gut, wenn das der Reiternachwuchs direkt lernt. Foto: Thoms Lehmann/FN-Archiv

Nach dem Draufführen muss immer erst die Absperrstange eingehängt werden, ehe das Pferd angebunden wird. Beim Entladen wird das Pferd zunächst losgebunden und erst dann erfolgt das Entfernen der Absperrstange. Die Absperrstangen können manuell von außen gelöst werden, falls das Pferd mit seinen Gliedmaßen darüber gerät oder sich darunter festklemmt. Wichtig ist, sich vor der ersten Fahrt mit diesen Sicherheitselementen vertraut zu machen und für den Ernstfall entsprechend zu üben und sicherzugehen, dass das nötige Werkzeug immer griffbereit ist.

Kontrolle des Materials

Auch die beste Ausrüstung taugt nur halb so viel, wenn sie nicht regelmäßig gewartet, gepflegt und überprüft wird. Insbesondere Lederteile können durch offene Nähte oder brüchige Stellen zu einem Sicherheitsrisiko werden. Besonderes Augenmerkt gilt daher Gurtstrippen, Steigbügelriemen, Trense und den Zügeln. Zusätzliche Sicherheitsfeatures für Decken, Halfter und Anbinder sollten regelmäßig und nach Angaben des Herstellers ausgetauscht werden, um eine ordnungsmäßige Funktionalität aufrechtzuerhalten.

Sicherer Geländereiten – FN-Filmreihe gibt Tipps

Gründe für das Reiten im Gelände und überhaupt für eine vielseitige Ausbildung von Pferd und Reiter gibt es viele. 2021 startete die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) mit Unterstützung der Stiftung deutscher Spitzenpferdesport eine neue Filmreihe, die interessierte Reiter Schritt für Schritt an das Reiten im Gelände und das Springen von geländetypischen Hindernissen heranführt. Wer die Filme ansehen und lernen möchte, kann dies unter www.pferd-aktuell.de/grundausbildung-gelaendereiten.

Fortschritt durch Nachfrage

Es tut sich viel in Sachen Sicherheit. Dennoch kann bei der Fülle des Angebots der Sicherheitsaspekt schnell aus den Augen verloren werden. Design und Schutz gehen zwar häufig einher, aber ersteres darf niemals gewichtiger bei der Kaufentscheidung sein als die Sicherheit. Nur durch Aufklärung, Forschung und vor allem der Nachfrage nach Sicherheitsprodukten kann das Reiten noch sicherer werden. Verschiedene Projekte und Arbeitsgruppen engagieren sich seit Jahren für mehr Sicherheit im Reitsport, unter anderem das Projekts „Mit SICHERHEIT besser reiten“ der Stiftung Deutscher Spitzenpferdesport. Dieses Förderprojekt umfasst Maßnahmen zum Geländeaufbau, den Hindernissen, Ausrüstung, Innovation, Forschung und Sicherheitstraining im Vielseitigkeitssport. Die Erfolge sind beachtlich: Von 2017 bis 2018 gab es einen Rückgang des Risikos von Rotationsstürzen um 55 Prozent. Neben der Innovation ist aber das Bewusstsein der Reiter über das Risiko der entscheidende Faktor zur Verbesserung und zum Fortschritt.

Lorella Joschko

Vorheriger Artikel

Ausgabe 07/2022
Persönlichkeiten der Pferdeszene: Wolfgang Brinkmann

Nächster Artikel

Ausgabe 07/2022
10 Tipps für mehr Kadenz