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Zu Besuch bei Schulpferden

Drei Helden für die Reitausbildung

Fast jeder Reiter ist ihnen zu Dank verpflichtet, sie lehren das 1×1, verzeihen Fehler, ebnen den Weg in den Sport und legen die Grundlage für spätere Erfolge: Schulpferde. Als „eierlegende Wollmilchsäue“ unter den Pferden sind sie angenehm zu reiten, gut erzogen, sitzbequem, sprunggewaltig, geländesicher und gesund. Dabei sind die Anforderungen an sie genauso unterschiedlich wie die Reiter, die sie in den Pferdesport begleiten. Stellvertretend für alle Lehrpferde haben wir drei Alltagshelden auf vier Hufen besucht und wollen wissen, was ihre Reitschüler, Ausbilder und Betriebsleiter an ihnen schätzen.

Beliebt bei den Reitschülern: Toni ist ein guter „Partner in crime“ und bringt so manche Eigenschaft mit, die ihn zum idealen Schulpferd macht. Alle Fotos: Cornelia Höchstetter

Einzelstunde in der großen Reithalle. Der Holsteiner Wallach Clemens galoppiert im gleichmäßigen und effizienten Springpferdegalopp auf den kniehohen Oxer zu. Er taxiert und nimmt das Hindernis in größtmöglicher Souveränität. Schon beim Zusehen schenkt man diesem Pferd alles Vertrauen der Welt. So auch Regina Schippers, 38 Jahre, aus Berlin. Sie strahlt nach dem letzten Hindernis über das ganze Gesicht. Im Entlastungssitz folgt sie der Bewegung des Pferdes und sie fühlt sich sichtlich wohl. Dabei ist es erst ihre fünf te Springstunde und sie hat erst vor einigen Jahren als Erwachsene mit dem Reiten begonnen.

Gelassenheit ist Trumpf

Während ihrer Reiterferien in der Reitschule Schulze Niehues in Freckenhorst im Münsterland lernte sie Clemens kennen – er entspricht ihrer Vorstellung eines guten Schulpferdes: „Clemens hält einem förmlich den Kopf zum Auftrensen hin, bleibt beim Putzen ruhig stehen und hat beim Führen ein gutes Tempo. Dass man sich auf ihn verlassen kann, ist mir am wichtigsten.“ Ein gut ausgebildetes Pferd bringt oft Ruhe und Gelassenheit. „Clemens ist beim Reiten sehr sicher. Den ticke ich einmal mit der Wade an und dann läuft er. Er würde auch nie meine ungenauen Hilfen ausnutzen – der weiß, was zu tun ist“, erzählt die Berliner Reitschülerin. Tatsächlich müssen Schulpferde den unterschiedlichen Ansprüchen verschiedener Zielgruppen entsprechen. Anfänger, Fortgeschrittene, aber auch turnierambitionierte Reiter sind dabei. Möglichst ein Pferd für alle Fälle soll es sein – das ideale Schulpferd.

Clemens, das Verlass-Springpferd

Alter: 26 Jahre
Rasse: Holsteiner Wallach, einer der letzten noch lebenden direkten Nachkommen des Stempelhengstes Cor de la Bryère
Zuhause: Reitschule Schulze Niehues, Freckenhorst
Lebenslauf/Herkunft: Kam vor mehr als zehn Jahren auf den Hof, um für Jan Schulze Niehues das Übergangspferd vom Pony- in den Großpferdesport zu werden. Dann war er das „Azubi-Pferd“, zum Beispiel bestand Ann-Kathrin Frenkel mit Clemens ihre Abschlussprüfung zur Pferdewirtin. Seit vielen Jahren Lehrpferd.
Ausbildungsstand: Routiniertes Turnierpferd, Springen bis Klasse M. Heute im Einsatz für Springen auf Höhe der Klasse E.
Eigenschaften: Gleichmaß der Bewegungen, immer im sicheren Rhythmus beim Springen. Menschenbezogen, brav im Umgang.
Persönlichkeit: Unerschrockenes souveränes Pferd mit ruhiger Ausstrahlung – im Umgang und unter dem Sattel.
Haltung: Clemens bewohnt seit zehn Jahren dieselbe Fensterbox. Ab sieben Uhr geht es bei jedem Wetter in einer Gruppe mit weiteren sieben Kollegen auf die Weide bzw. das Paddock. Am Nachmittag stehen für ihn als Stangenspezialist ein oder maximal zwei Reiteinheiten (45–60 Minuten) an.
Reitschüler-Zielgruppe: erwachsene Wiedereinsteiger oder Anfänger

Ehrgeiziger Lernpartner

Die Reitschule Altrogge-Terbrack konzentriert sich auf diese sportlichorientierten Reitschüler. Zu ihnen gehört Kirsten Eiersbrock, 32 Jahre alt, sie reitet zweimal in der Woche. Ihr Schulpferd ist ein erfolgreiches Turnierpferd: Das Deutsche Reitpony Call me Charly ging bereits Pony- Europameisterschaft und vermittelt heute Reitern wie Kirsten Eierbrock den Ehrgeiz eines vierbeinigen Sportlers. Mit Call me Charly geht sie in die Springstunde oder reitet auf dem Geländeplatz im Freien. Sie ist genau wie Schulponyreiterin Lara Welling, 16 Jahre alt, der Meinung: „Call me Charly macht großen Spaß, weil er mit viel Zug an die Sprünge geht, aber doch fein auf die Hilfen reagiert.“ Doch Schulpferde sind nicht nur zum Reitenlernen oder für den Sport wichtig. Sie sind auch eine Alternative zum eigenen Pferd. Wie für Kira Kaschube, 24 Jahre, vom Reitverein Vorhelm Schäringer Feld. Sie ist zum zweiten Mal Mutter geworden. Ein eigenes Pferd käme weder vom zeitlichen noch vom finanziellen Budget derzeit in Frage – und mit dem siebenjährigen Schulpferd Toni, einem ungarischen Wallach, hat sie ein Pferd, das sie als Schulpferdereiterin sogar mit weiterentwickeln kann.

Der Blick des Reitlehrers

Die Reitlehrer haben einen besonderen Draht zu den Schulpferden. Anja Krüger ist Pferdewirtschaftsmeisterin und Ausbilderin auf dem Hof Schulze Niehues. Sie schätzt an Clemens, dass der 26-jährige Routinier zu jeder Zeit eine ruhige Ausstrahlung hat. Diese Eigenschaft wird unterstützt durch sein unerschütterliches Gleichmaß in der Bewegung. „Ein derart sicherer Rhythmus, egal was passiert, überträgt sich positiv auf die Reiterin“, beobachtet Anja Krüger. Sie weiß aber auch: „Es gibt Reiter, die mögen Clemens weniger gern reiten, weil sie sich zu wenig herausgefordert fühlen, weil er natürlich viel übernimmt.“ Für erwachsene Wiedereinsteiger oder erwachsene Einsteiger ist Clemens aber das perfekte Lehrpferd. Das Reitpony Call me Charly hat wie Clemens seinen Schwerpunkt im Springunterricht. 

„Er gibt den Kindern das Gefühl für den Kampfgeist – und sie bekommen Vertrauen in das Tempo, weil er immer zuverlässig springt“, das ist Betriebsleiter und Ausbilder Markus Terbrack aus Nottuln wichtig. In Toni, dem siebenjährige Schulpferd des Reitvereins Vorhelm Schäringer Feld, sieht Stephanie Schulze Rieping ihr Zukunfts-Lehrpferd: „Ich bin überglücklich, dass ich mich auf ihn verlassen kann. Er ist charakterfest und leichtrittig, daher flexibel einsetzbar. Und bei den Reitschülern sehr beliebt – ein Freund und Partner.“

Seine 26 Jahre sieht man Clemens nun wirklich nicht an. Früher im Springsport bis Klasse M erfolgreich, lehrt er Reitschüler noch immer das kleine 1×1 der Springausbildung.

Kapitals des Betriebs

Wenn Stephanie Schulze Rieping mit den Augen der Betriebsleiterin auf ihr Schulpferd blickt, dann hebt sie dessen Vielseitigkeit hervor. „Das ist uns genauso wichtig wie seine robuste Gesundheit und sein Leistungswille. Unsere Schulpferde müssen auch in der dritten Stunde noch laufen wollen und dazu brauchen die Pferde eine besonders gute innere Einstellung.“ Gesundheit ist viel wert: Um die Konstitution des 26-jährigen Clemens sind alle auf dem Hof Schulze Niehues dankbar. „Er ist eins unter tausend Pferden“, kategorisiert der Hof-Chef Ludger Schulze Niehues. In seinem Leben als Sport- wie auch als Schulpferd hatte der 26-Jährige einmal eine kleine Kolik. Wenn man Clemens in der Reitstunde beobachtet, bewegt er sich beneidenswert elastisch, vor allem, wenn man das Alter bedenkt. „Die Lehrpferde sind das Kapital des Betriebes“, erklärt Ludger Schulze Niehues. Deshalb achtet er auf ein entsprechendes Management der Schulpferde. Dazu gehört für ihn ein qualitätsvolles Trainerteam, das sich verantwortungsbewusst um die Lehrpferde kümmert. Ein weiterer Aspekt für den Betriebsleiter ist der gute Ruf: Für Markus Terbrack ist ein Pony wie Call me Charly eine gute Werbung für seinen Betrieb – seine Reitschüler dürfen fühlen, wie ein Europameisterschafts-Pony zu reiten ist.

Nadel im Heuhaufen

Für jeden Reiter ist es schwierig, ein geeignetes Pferd zu finden. Ein gutes Schulpferd zu entdecken, ist nochmal komplizierter. Wo finden die Lehrbetriebe ihre Ausbildungspferde? Hier hat jeder ein eigenes Rezept – gemeinsam ist allen, dass die Pferdesuche am besten über Mundpropaganda und Empfehlungen funktioniert. Sowohl der Holsteiner Clemens als auch das ungarische Warmblutpferd Toni kommen aus Handelsställen. „Auf Clemens haben uns Bekannte aufmerksam gemacht. Er stand im Stall eines Pferdehändlers in Niedersachsen – mein Vater war damals schon gut bekannt mit ihm“, erzählt Jan Schulze Niehues, wie er zu Clemens kam. Wichtigste Eigenschaft für ihn und seinen Vater Ludger Schulze Niehues war und ist die „Grundehrlichkeit“, gefolgt von einer guten Arbeitseinstellung. „Die muss immer gleich sein, egal wie talentiert der Reiter im Sattel ist“ – das zeichnet Clemens bis heute aus.

Vom Sportpferd zum Lehrmeister

Zwischen Hindernissen fühlt sich Call me Charly wohl und vermittelt seinen Reitern Sicherheit.

Markus Terbrack von der Reitschule Altrogge Terbrack aus Nottuln im Münsterland sucht seine Schulpferde gerne aus dem Sportbereich und hat damit gute Erfahrungen gemacht: „Der Eingewöhnungsprozess in einen Betrieb wie unseren muss aber für jedes Pferd individuell gestaltet werden.“ Das Deutsche Reitpony Call me Charly kannte er schon lange zuvor, er war mit verschiedenen Kindern im Ponysport bis zur Klasse M** erfolgreich. Die Ponyzüchter Claudia und Dietmar Boom kauften Call me Charly vor vier Jahren. Weil Markus Terbrack und das Ehepaar Boom sich auch schon länger kannten und sich gegenseitig schätzen, kam vor zwei Jahren die Idee: Call me Charly soll ein Lehrmeister werden oder wie man in den USA sagt: „Schoolmaster“. Das Pony bleibt im Besitz von Booms, wird aber bei Terbracks weiterhin gefordert. „Er braucht Aufmerksamkeit und eine Aufgabe“, sagt Claudia Boom. Eine gute Lösung für alle und sollte Call me Charly eines Tages wirklich reif für die Rente sein, kommt er wieder auf den Hof von Claudia und Dietmar Boom.

Call me Charly, das Erfolgspony

Alter: 20 Jahre
Rasse: Deutsches Reitpony
Zuhause: Reitschule Altrogge-Terbrack, Nottuln
Lebenslauf/Herkunft: Springpony aus dem Jugendsport, war mit verschiedenen Kindern erfolgreich.
Ausbildungsstand: bis Springen Klasse M**, Teilnehmer bei der Pony-Europameisterschaft. Heute Springen bis Klasse A.
Eigenschaften: ehrlich, zuverlässig, ehrgeizig, aber gut zu regulieren. Lieb im Umgang, lammfromm beim Putzen und Hufe geben.
Persönlichkeit: Leistungsträger mit Kampfgeist und viel Vorwärtsdrang.
Haltung: Call me Charly lebt in Nottuln in der Reitschule in einer Außenbox mit Blick auf den Hof und kommt alleine oder mit einem Kollegen zwei Stunden auf die Wiese oder den Sandauslauf. Wenn Feriengäste auf dem Hof sind, geht Charly im Vormittagsunterricht, manchmal auch nachmittags. Die Kinder führen ihn zusätzlich ab und zu im Hof spazieren.
Reitschüler-Zielgruppe: sportliche und turnierambitionierte Reiter, vor allem Jugendliche

Kurzentschlossen

Toni vom Reitverein Vorhelm Schäringer Feld stand frisch aus Ungarn importiert in einem Händlerstall. „Wir brauchten einen Nachfolger im Schulstall und hatten schon ein halbes Jahr gesucht“, erzählt Stephanie Schulze Rieping. Die entscheidende Information über Toni kam dann über einen Freund – Netzwerken ist eben Trumpf. Stephanie Schulze Rieping und ihre Schwester Barbara schauten sich den etwas kleineren und robusten Warmblüter an. „In so einem Fall muss man sich schnell entscheiden“, erzählt die Ausbilderin. Einer ihrer besten Reitschüler durfte Probe reiten. „Bei uns müssen die Pferde Dressur und Springen gehen und möglichst von Kindern und Erwachsenen sämtlicher Größen und Gewicht geritten werden. Sie müssen einiges aushalten, aber auch sensibel genug sein“, sagt Stephanie Schulze Rieping. Deshalb habe ihr das ungarische Pferd Toni gut gefallen: „Etwas kurzbeinig, aber dafür sehr robust.“ Der Trab muss bequem zu sitzen sein, der Schritt ergiebig und der Galopp ein klarer Dreitakt. „Diese Eigenschaften sehe ich in fünf Minuten“, sagt die Betriebsleiterin. Die Entscheidung fiel – und war richtig.

Toni, der Allrounder für die Zukunft

Alter: 7 Jahre
Rasse: ungarischer Wallach
Zuhause: Reitverein Vorhelm Schäringer Feld, Vorhelm
Lebenslauf/Herkunft: Kam aus Ungarn als Vierjähriger in einen Handelsstall, wo Stephanie Schulze Rieping ihn entdeckte.
Ausbildungsstand: E/A-Dressur, Stangenarbeit, Verlasspferd
Eigenschaften: verschmust, zuverlässig, buckelt nicht. Deckt trotz seines „nur“ 1,60 Meter Stockmaß fast jeden Reiter gut ab.
Persönlichkeit: leichtrittiges Verlasspferd mit Fleiß Haltung: Innenbox, kommt täglich – Sommer wie Winter – zwei bis drei Stunden auf die Weide, allein oder zu zweit. Er bekommt viel Raufutter, wenig Kraftfutter. Spätnachmittags oder abends stehen Reitstunden an, bisher dosiert ein bis zwei Stunden.
Reitschüler-Zielgruppe: fortgeschrittene Reiter, Kinder genau wie Erwachsene, inzwischen auch erfahrenere Anfänger.

Dank und Hochachtung

Die drei Pferde Toni, Clemens und Call me Charly sind ganz sicher Ausnahmeschulpferde – aber eben auch Beispiele dafür, dass gute Lehrpferde sich für alle Beteiligten lohnen. Auch in Zukunft werden die meisten Menschen von Schulpferden das Reiten lernen. Deshalb verdienen Schulpferde absolute Hochachtung!

Cornelia Höchstetter

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