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Weltmeisterschaften 2022 in Pratoni del Vivaro

Pratoni ruft zur WM

1960 wurde auf der Geländestrecke in Pratoni del Vivaro um olympische Ehren geritten, jetzt treffen sich dort vom 14. bis 18. September die  Vielseitigkeitsreiter und eine Woche später vom 21. bis 25. September die Vierspänner-Fahrer zu ihren Weltmeisterschaften. Kim Kreling hat für das PM-Forum mit den Bundestrainern Peter Thomsen und Karl-Heinz Geiger über ihr Team und ihre WM-Erwartungen gesprochen.

Das Vielseitigkeitsteam: Sandra Auffahrt mit Viamant du Matz (o.li.), Michael Jung mit fischerChipmunk FRH (o.re.), Julia Krajewski mit Amande de B’Neville (u.li.) sowie Christoph Wahler mit Carjatan S (u.re.). Fotos: Stefan Lafrentz

Vielseitigkeit: Interview mit Peter Thomsen

PM-Forum: Sie saßen viermal selbst bei Weltmeisterschaften im Sattel, aber das ist Ihre erste WM als Bundestrainer. Wie fühlt sich das an?

Peter Thomsen: Mega spannend – wie auch als Reiter. Der Verantwortungsbereich ist jetzt natürlich breiter. Als Reiter ist man nur für sich selbst, sein Pferd und Team verantwortlich, als Bundestrainer bin ich für alle mitverantwortlich, die versuchen, sich für die WM in Szene zu setzen. Anne-Kathrin Pohlmeier hat das Dressurtraining Anfang des Jahres von Jürgen Koschel übernommen und macht das brillant. Marcus Döring ist ja schon seit 2017 Spezialtrainer im Springreiten und macht da einen super Job. Und das Geländetraining hat nach Chris Bartle dieses Jahr der Franzose Rodolphe Scherer übernommen. Er ist selbst zweimal bei Olympischen Spielen geritten und hat 1998 WM-Team-Silber gewonnen. Mein Part ist es, Reiter, Trainer und das gesamte Drumherum zu koordinieren und zu managen und da Rodolphe noch nicht jeden Tag bei uns vor Ort sein kann und ich die Reiter schon ewig kenne, mache ich das Geländetraining im Moment mit den Reitern zusammen. Das geht alles Hand in Hand.

PM-Forum: Im Vorfeld der WM haben Sie recht frühzeitig die Reiter in vier Blöcke eingeordnet. Was steckt dahinter?

Peter Thomsen: So wissen die Reiter, wo sie stehen. Alle Reiter pro Block sind in einer Leistungsdichte. Die ersten Drei in Block eins waren nach ihren Erfolgen einschließlich Aachen fast gesetzt für das WM-Team, wenn nichts Unvorhergesehenes passiert: Sandra Auffahrt mit Viamant du Matz, Michael Jung mit fischerChipmunk FRH und Julia Krajewski mit Amande de B’Neville. Die Reiter aus Block zwei waren danach am dichtesten dran. Die endgültige Entscheidung fiel bei der letzten Sichtung Mitte August in Haras du Pin.

PM-Forum: Wieso hatten Sie gerade das französische Haras du Pin als letzten WM-Test ausgesucht?

Peter Thomsen: In Frankreich ist es sehr hügelig, das kommt Pratoni sehr nahe. So haben wir eine gute Vergleichbarkeit von allen Paaren und die Pferde haben bei dieser letzten Prüfung vor der WM auch noch mal einen Konditionsschub bekommen. In Frankreich gingen die Pferde sieben Minuten in den Hügeln, in Italien werden es zehn sein.

PM-Forum: Den WM-Ort Pratoni kennen Sie selbst schon aus Ihrer reiterlichen Zeit sehr gut.

Peter Thomsen: Ja, ich bin da 1998 Weltmeisterschaft mit Warren Gorse und 2007 Europameisterschaft mit Ghost of Hamish geritten, war auch sonst einige Male dort am Start und habe im vergangenen Jahr Hans (Melzer) dorthin als Trainer begleitet. Ich kenne die Gegebenheiten also sehr gut und bin sicher, dass die WM im Gelände entschieden wird. Mit drei flotten Nullrunden im Gelände hätten wir ziemlich sicher eine Medaille.

Bundestrainer Peter Thomsen. Foto: FN-Archiv

Dr. Reiner Klimke

Olympischer Startschuss für Dr. Reiner Klimke – 1960 in Pratoni del Vivaro gehörte Klimke zum ersten Mal einer olympischen Mannschaft an, der deutschen Vielseitigkeitsmannschaft. Mit der neunjährigen Stute Winzerin galoppiert er als einer der ganz wenigen Reiter fehlerfrei durch das schwierige Gelände. Vier Jahre später, 1964 in Tokio, war Klimke erneut Teil des deutschen Olympiateams, dieses Mal in der Dressur. Insgesamt gewann Klimke zwischen 1964 und 1988 sechs olympische Gold- und zwei Bronzemedaillen.

PM-Forum: Das Gelände als absolute Schlüsselrolle bei der WM?

Peter Thomsen: Ja, absolut. Das Geländeprofil in Pratoni ist sehr hügelig. Bei hügeligem Gelände hat der Aufbauer es leicht, Pferde und Reiter „aus der Balance“ zu bringen. Wir können das in Deutschland wenig trainieren, weil wir wenige Prüfungen mit hügeligem Gelände haben. Die einzige Ausnahme ist Marbach. Zwei Ecken oder eine dreifache Kombination auf ebener Strecke sind etwas ganz anderes als bergab, da kommen der eigene Körper und der des Pferdes dazu, beide „rollen“ und so wird die Balance zu einem Schwierigkeitsgrad.

PM-Forum: Ein Kernstück in Pratoni ist der bekannte Steilhang.

Peter Thomsen: Dieser Steilhang ist ähnlich steil wie der Wall beim Spring-Derby in Hamburg, aber viel länger. Es geht 30 bis 40 Meter runter und da wird der  Parcoursbauer Guisseppe della Chiesa schmale Sprünge hinbauen. Das verlangt Höchstleistungen. Und oben an der Kante baut er einen Hochweit-Sprung hin, das macht das Ganze noch schwieriger. Davon müssen wir auf jeden Fall ausgehen. Dieser Steilhang ist schon seit 40 Jahren ein Riesenkriterium in Pratoni. In der Vorbereitung stellen wir uns gezielt auf diese Stelle ein, nicht zuletzt im Trainingslager Anfang September in Bonn beziehen wir diverse Bergab-Sprünge ein. Außerdem habe ich jedem Reiter im Vorfeld ein Video von diesem Hang geschickt. Das Video zeigt einen Ritt von Sandra (Auffarth), die damals da gewonnen und diese Stelle sehr gut gemeistert hat. Aber Pratoni hat noch weitere Herausforderungen: Es gibt dort ein sehr schweres Coffin und oben auf dem Plateau ist immer ein dunkles Schattenloch. Licht und Schatten spielen bei der Fehlerhäufigkeit auch eine Rolle. Das Gelände in Pratoni ist nicht gefährlich, aber es werden viele Fehler gemacht. Viele sagen, Pratoni ist der schönste Geländeplatz der Welt. Es wird noch wirklich klassisches Geländereiten abgefragt, das auch konditionell eine Herausforderung ist. Man muss top vorbereitet sein!

Einzelreiterin Alina Dibowski mit Barbados. Foto: Stefan Lafrentz

PM-Forum: Nicht zuletzt der Boden ist in Pratoni etwas Besonderes. Was hat es damit auf sich?

Peter Thomsen: Da fällt mir sofort die WM 1998 ein. Wir hatten tagelang Dauerregen und ich habe nachts kein Auge zugemacht, weil wir dachten, das wird eine Katastrophe mit dem Boden. Aber es war perfekt. Der Boden ist einfach herausragend – egal, ob es tagelang regnet oder sechs Wochen trocken ist. Der Grasboden mit Lavasand darunter gibt einem immer das Gefühl, auf einem Teppich zu reiten.

PM-Forum: Sie haben ein klares Ziel für die WM ausgegeben …

Peter Thomsen: Ja, eine Mannschaftsmedaille, die hat Priorität Nummer eins! Wir glauben an uns und wir wissen, was wir können: Michi ist die Nummer zwei der Weltrangliste, Julia ist Olympiasiegerin und Sandra ist 2014 Weltmeisterin geworden! Wir müssen als Team auftreten und ich erwarte von den Reitern, dass sie sich notfalls auch selbst zurücknehmen, um die Mannschaftsmedaille und die Olympiaqualifikation hinzukriegen.

PM-Forum: Aber die Konkurrenz ist stark. Wen sehen Sie ganz vorne?

Peter Thomsen: Absoluter Top-Favorit ist England. Sie haben das Fünf- bis Zehnfache an Topreitern im Vergleich zu allen anderen Nationen. Das macht sie unheimlich stark.

Das Team Vielseitigkeit:

• Sandra Auffahrt mit Viamant du Matz
• Michael Jung mit fischerChipmunk FRH
• Julia Krajewski mit Amande de B’Neville
• Christoph Wahler mit Carjatan S
• Einzelreiterin: Alina Dibowski mit Barbados

1. Reserve: Nicolai Aldinger mit Timmo für das Team und Sophie Leube mit Jadore Moi bei Ausfall der Einzelreiterin.

Weitere Reservisten in folgender Reihenfolge: Dirk Schrade mit Casino, Malin Hansen-Hotopp mit Carlitos Quidditch sowie Ingrid Klimke mit Equistros Siena just do it.

Fahren: Interview mit Karl-Heinz Geiger

PM-Forum: Die WM in Pratoni naht – wie blicken Sie der WM entgegen?

Karl-Heinz Geiger: Wir haben mit Mareike Harm eine sehr gute Dressurfahrerin und mit Michael Brauchle einen echten Marathonspezialisten. Dieses Jahr hat sich im Laufe der Saison mehr und mehr herauskristallisiert, dass sie und ihre Gespanne hervorragend in Form sind. Durch diese Kombination fahren wir mit einer sehr großen Erwartung nach Italien. Wir streben ganz klar einen Medaillenrang an, aber momentan sind die Chancen so gut wie lange nicht mehr, dass wir vielleicht auch Mannschaftsgold erreichen können – und vielleicht sogar Gold im Einzel.

PM-Forum: Seit dem 9. August steht Ihr Team fest.

Karl-Heinz Geiger: Ja, genau. Unsere drei Teamfahrer sind Mareike Harm, Michael Brauchle und Georg von Stein. Die drei Einzelfahrer, die zugleich Reservefahrer für das Team sind, sind René Poensgen, Anna Sandmann und Dirk Gerkens. Wenn sich beim Nennungsschluss nicht so viele Teilnehmer angemeldet haben sollten wie erwartet, dann könnten wir sogar noch mit einem siebten Fahrer anreisen, das wäre dann Christoph Sandmann.

Das Team der Vierspänner-Fahrer: Mareike Harm …

… Michael Brauchle und

… Georg von Stein. Fotos: Dirk Caremans/sportfotos-lafrentz.de

PM-Forum: Geben Sie uns zu jedem Fahrer eine kurze Charakterskizze?

Karl-Heinz Geiger: Mareike Harm fährt die Dressur mit viel Harmonie, arbeitet sehr konsequent in der Dressur und hat sehr gute Pferde. Michael Brauchle, unser Marathonspezialist, ist unheimlich schnell im Greifen und seine Pferde haben ein herausragendes Galoppiervermögen. Viele Fahrer haben niederländische Gelderländer im Gespann, Michael hat Warmblüter aus deutscher Zucht – das ist beim Galoppieren schon ein Unterschied, gerade in der Beschleunigung. Georg von Stein ist ein Routinier. Er war schon vielfach in der Mannschaft, hatte jetzt eine Zeit des Aufbaus mit neuen Pferden im Team, ist aber wieder sehr gut drauf. René Poensgen hat auch ein tolles Gespann mit ganz viel Harmonie und zeigt in allen drei Disziplinen sehr solide Leistungen. Eine junge Fahrerin ist Anna Sandmann, die schon viel Erfahrung mit Zweispännern hat. Ihre große Stärke ist auch die Dressur. Dirk Gerkens war schon Pony-Vierspänner- Weltmeister, fährt seit einigen Jahren Großpferde, die er alle selbst gezüchtet hat, und hat sich in diesem Jahr in der Dressur nach vorne gearbeitet. Im Gelände ist er auch sehr schnell, hat aber manchmal noch den ein oder anderen kleinen Abstimmungsfehler. Und Altmeister Christoph Sandmann kommt auf jeden Fall mit nach Pratoni – entweder zur Unterstützung, natürlich in erster Linie für seine Tochter Anna, oder tatsächlich zum Fahren, wenn wir sieben mitnehmen dürfen oder jemand ausfallen sollte.

Boyd Exell – weiter unschlagbar?

Seit 2010 ist der Australier Boyd Exell bei Weltmeisterschaften der Vierspänner ungeschlagen. Auch 2022 hat der Dauersieger gute Chancen seinen Titel zu verteidigen, das bescheinigt ihm der deutsche Bundestrainer Karl-Heinz Geiger, aber… „auch unser Michael Brauchle ist einer der Favoriten.“

Die Einzelfahrer: René Poensgen …

… Anna Sandmann und

… Dirk Gerkens. Fotos: Dirk Caremans/sportfotos-lafrentz.de

PM-Forum: Die stärkste Konkurrenz in der Teamwertung kommt – wie in den Vorjahren – aus den Niederlanden?

Karl-Heinz Geiger: Richtig. Bram und sein Vater Ijsbrand Chardon sind Top-Fahrer mit guten Möglichkeiten, aber unsere Stärke liegt im Marathon: Wenn es bei Michael Brauchle einigermaßen normal läuft, kann den im Moment keiner holen. Auf der letzten Europameisterschaft hat Michael dem Zweitplatzierten zehn Punkte abgenommen.  Und in der Dressur ist Mareike immer ganz vorne dabei, da ist höchstens noch Boyd Exell vor ihr. Und da beim Fahren in jeder Disziplin nur die beiden besten Resultate je Teilprüfung gewertet werden, haben wir eine sehr gute Ausgangssituation.

PM-Forum: Und wie sieht es mit Dauergewinner Boyd Exell aus?

Karl-Heinz Geiger: Es ist naheliegend, dass er auch dieses Jahr wieder Einzelweltmeister wird, aber weitere Favoriten sind für mich auch die beiden Chardons und unser Michael Brauchle.

Historie: Olympia 1960

Die Geländestrecke der – damals noch sogenannten – „Militaryreiter“ führte schon bei den Olympischen Spielen 1960 durch die Hügel von Pratoni del Vivaro, rund 30 Kilometer südöstlich von Rom. Die Strecke in dem sehr hügeligen Gelände forderte Reiter und Pferde bis an die Grenzen und darüber hinaus. Von 73 Startern beendeten nur 41 das Gelände, von 18 Mannschaften kamen nur sechs in die Wertung. 30 der 35 Hindernisse waren zwischen 15 und 30 Meter breit, das hat das Schlimmste verhindert, denn viele der Hindernisstangen brachen während der Prüfung. Durch die Breite der Hindernisse konnten die Reiter noch auf intakte Abschnitte ausweichen. Der Aufbau von damals ist mit der heutigen Bauart nicht mehr zu vergleichen, der Vielseitigkeitssport hat sich gerade diesbezüglich enorm entwickelt!

PM-Forum: Kennen Sie die Örtlichkeiten in Pratoni schon?

Karl-Heinz Geiger: Bisher nur von Bildern. Die Hindernisse sind relativ offen und großzügig gestaltet, es sind auch einige mobile Hindernisse dabei, auf denen auch besonders viele abwerfbare Bälle liegen. Bei diesen Hindernissen muss man auf sehr genaues Fahren achten.

PM-Forum: Auf welche Teildisziplin freuen Sie sich am meisten?

Karl-Heinz Geiger: Auf den Marathon, obwohl ich beim Hindernisfahren am aufgeregtesten bin – da hängt alles am seidenen Faden. Einmal zu weit links oder rechts und der Ball ist weg und schon haben wir vielleicht einen Platz verloren. Aber der Marathon ist das Tollste.

 

Kim Kreling

Das Team Fahren:

• Mareike Harm
• Michael Brauchle
• Georg von Stein
Einzelfahrer: René Poensgen, Anna Sandmann, Dirk Gerkens

Christoph Sandmann wurde auf eigenen Wunsch nicht nominiert, steht aber zur Verfügung, sollte ein siebter Fahrer starten dürfen oder einer der anderen Fahrer ausfallen.

Pratoni-Highlights

Das Pferdesportzentrum in Pratoni del Vivaro erstreckt sich über 120 Hektar und liegt etwa 600 Meter über dem Meeresspiegel. In den vergangenen Jahrzehnten wurden etliche Pferdesport-Highlights dort ausgetragen – nach den Olympischen Spielen 1960 (Gelände Vielseitigkeit) beispielsweise:
• 1986 Weltmeisterschaften der Distanzreiter
• 1990 Pony-Europameisterschaften Vielseitigkeit, Springen und Dressur
• 1995 und 2007 Europameisterschaften Vielseitigkeit
• 1997 Europameisterschaften Distanzreiten
• 1998 Weltreiterspiele (Vielseitigkeit und Fahren)
• 2006 und 2010 Weltmeisterschaft der Einspänner-Fahrer
• und mehrere Europa-/Weltmeisterschaften im Nachwuchsbereich

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