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Lernen vom Reitmeister: Martin Plewa

Turniersport: Wie Richter richten

Mit geschultem Auge und Fingerspitzengefühl

Durch die Lautsprecher wird das nächste Reiter-Pferd-Paar angekündigt. Die Richter-Glocke ertönt, die Prüfung beginnt… Wer am Richtertisch sitzt, beurteilt Leistungen, beobachtet die Prüfungen, überwacht das Turniergeschehen und bestimmt letztendlich maßgeblich mit, in welche Richtung sich der Pferdesport entwickelt. Eine große Verantwortung.

Stille Beobachter am Rande: Richter schauen ganz genau hin, beurteilen das Gesehene nach bestem Wissen und Gewissen und geben anschließend idealerweise ein wertschät- zendes Feedback. Fotos (7): Sabine Brose/galoppfoto.de

Als Turnierfachleute sind auch Richter ehrenamtlich tätig und durchlaufen eine lange und intensive Schulung sowie Prüfung. Dabei sind sie in allererster Linie an die Leistungs-Prüfungs-Ordnung (LPO) gebunden. Diese regelt den gesamten Turniersport und stellt dabei stets das Tierwohl, Fairness und Chancengleichheit in den Fokus. Doch was genau ist nun Aufgabe der Richter? Richter sind auf dem Vorbereitungsplatz und in Prüfungen im Einsatz, außerdem Ansprechpartner zum Beispiel für Ausrüstungsfragen und Tierarztkontrollen. Sie beurteilen nach den in den FN-Richtlinien für Reiten und Fahren festgelegten Grundsätzen, was sie während der Prüfung wahrnehmen, und fällen danach ihren Richterspruch. Verhält sich jemand unsportlich, können Richter auf dem gesamten Turniergelände Rügen aussprechen und in bestimmten Fällen Teilnehmer sogar von einer Prüfung ausschließen. Auch für das Aufwärmen der Pferde auf dem Vorbereitungsplatz gibt es Regeln. Verstößt jemand dagegen, kann der aufsichtführende Richter ebenso ermahnen, rügen oder ausschließen. „Doch häufig reicht eine Ansprache mit Erläuterung“, berichtet Nicole Nockemann aus Erfahrung. Die 51-Jährige ist internationale Richterin und richtet national bis Grand Prix. „Zudem kann es angebracht sein, dass wir auch mit Angehörigen des Reiters sprechen. Dass wir präsent sind, ist zunehmend relevant, da sich auch Dritte wie Zuschauer, Mitbewerber oder auch die Presse an uns wenden.“

Planvoll und vorbereitet

Richter werden von einem Turnierveranstalter eingeladen. Die Einladungen gehen meist zum Jahresanfang für die gesamte Saison raus. Kurz vor dem Turnier bekommen die Richter die Zeiteinteilung, der sie Beginn und Ende der Veranstaltung und ihre Einsätze entnehmen können. Zur Vorbereitung schaut sich Nicole Nockemann konkret an, welche Prüfungen sie beurteilen soll, welche Klassen mit welchen Richtverfahren und welche Aufgabe geritten wird. Auch die Richter müssen mit der Aufgabe vertraut sein, um sich auf das Reiten konzentrieren und ein gutes Protokoll schreiben zu können. Mit Bekanntwerden der Zeiteinteilung wird auch überprüft, ob ein Richter eventuell befangen sein könnte – etwa durch Verwandtschaft oder wirtschaftliche Beziehungen zu einem der Teilnehmer. Dafür, dass dies nicht der Fall ist, sind Richter und Veranstalter gemeinsam verantwortlich. Gegebenenfalls müssen sie die Einteilung noch einmal ändern. Sollte das nicht mehr möglich sein, muss der betroffene Teilnehmer notfalls auf seinen Start verzichten. Am Turniertag selbst geben die Prüfungen den Tagesablauf der Richter vor. Der erste Gang führt zur Meldestelle als Mittelpunkt aller Informationen. Hat ein Richter in der ersten Prüfung Aufsicht auf dem Vorbereitungsplatz, beginnt diese 30 Minuten vor dem Start der Prüfung. Als Aufsicht auf  dem Vorbereitungsplatz überwacht der Richter vor allen Dingen die Einhaltung der LPO-Bestimmungen hinsichtlich zulässiger Ausrüstung und fairem und pferdegerechtem Verhalten aller Teilnehmer. Dazu gehören zum Beispiel auch der Aufbau der Hindernisse auf dem Vorbereitungsplatz oder die Einhaltung der Bahnordnung.

Beobachtend oder beurteilend?

Man unterscheidet zwei Richtverfahren: das beobachtende, bei dem Fehlerpunkte und Zeit zählen, und das beurteilende, bei dem Wertnoten vergeben werden. Das beurteilende Richtverfahren gliedert sich wiederum auf in das gemeinsame und das getrennte Richten. Beim gemeinsamen Richten bewerten zwei Richter zusammen je- den Ritt mit einer Wertnote zwischen 0 und 10, Dezimalstellen sind erlaubt. So werden zum Beispiel die meisten Dressurprüfungen der Klassen E bis L, Dressurpferdeprüfungen oder Wettbewerbe der WBO gerichtet. Auch Stilspringen oder Springpferdeprüfungen werden nach dem gemeinsamen, beurteilenden Richtverfahren gewertet.

Der Richter bei C ist immer der Hauptverantwortliche.

Arbeitsmaterial eines Richters: Glocke, Stift und Papier fürs Protokoll, alles liegt bereit. Es kann losgehen mit der Prüfung. Foto: Ludwiga von Korff

Getrennt zu einer Note

Beim getrennten Richtverfahren sitzen zwei bis fünf Richter getrennt voneinander am Dressurviereck, an der kurzen Seite bei C sowie bei H und M und/oder bei E und B. Der Richter bei C ist der „Hauptverantwortliche“, der auch über das Glockenzeichen den Start freigibt oder bei Bedarf eine Prüfung unterbrechen kann – zum Beispiel bei Verreiten. Jede Lektion wird einzeln mit Punkten zwischen 0 und 10 bewertet, wobei nur ganze und halbe Noten zulässig sind, und entsprechend im Protokoll begründet werden. Am Ende werden die einzelnen Punkte zusammengezählt und ergeben pro Richter eine Gesamtpunktzahl, die wiederum zu einer Endsumme addiert und in Prozente umgerechnet wird. National werden je nach Aufgabe noch vier bzw. fünf Schlussnoten (zum Teil mit einem Koeffizienten von 2) vergeben, die den Ritt insgesamt noch ein mal resümieren. Hierbei unterscheidet man: Reinheit der Gänge, Schwung/Rückentätigkeit, Gehorsam/Durchlässigkeit sowie Sitz und Einwirkung des Reiters.

Leitmotive

Alle Wertnoten haben eine Wortbedeutung. Nicole Nockemann sagt dazu: „Diese Definition hinter der Wertnote leitet mich in der Benotung und Kommentierung. Der zweite wichtige Aspekt ist die Skala der Ausbildung, die die Grundlage unserer Bewertung ist, sie hilft mir an jedem Richtertag. Ist zum Beispiel eine Gangart in einer Lektion deutlich im Takt gestört, dann ist sie zu diesem Zeitpunkt mangelhaft. Galoppiert das Pferd im Mitteltrab in einer L-Dressur an, kann diese Lektion nicht mit einer zufriedenstellenden Einzelnote versehen werden. Im gemeinsamen Richten ist hier ein einzelner Fehler passiert, den wir notieren. Ist davor und danach aber die Gesamtvorstellung im positiven Bereich, dann nehme ich hier beispielweise von einer angenommenen guten Grundnote einen Abzug vor.“ Insgesamt lasse sie sich immer davon leiten, dass der Start für den Turnierteilnehmer die wichtigsten Minuten an diesem Tag sind und dass alle Reiter viel investieren, um die Prüfung bestmöglich zu absolvieren, beschreibt Nockemann ihre grundsätzliche Herangehensweise. „Kinder- und Jugendprüfungen sollten immer mit direkter Kommunikation und Motivation für die jungen Turnieraspiranten verbunden werden. Wertschätzende Worte sind ein Muss“, sagt sie.

So wird man Richter

Zu Beginn der Richterlaufbahn machen Interessierte eine Aufnahmeprüfung und sind dann „Richteranwärter“. Die Prüfung zum Richteranwärter beinhaltet das Richten einer Dressurprüfung Klasse A, eine Pferdebeurteilung, Fragen zur Reitlehre, zur LPO und den Richtlinien einer Springprüfung sowie eine Parcoursbeurteilung. Die Richteranwärter sammeln dann Erfahrung, indem sie in Dressur und Springen bei Kollegen im gemeinsamen und getrennten Richten assistieren, den Parcourschef und den aufsichtführenden Richter auf dem Vorbereitungsplatz unterstützen. Zudem erhalten sie verschiedene Schulungen und Angebote zu Seminaren. Diese Ausbildungszeit dauert bis zu vier Jahre. Zur eigentlichen Richterprüfung wird dann zugelassen, wer eine festgelegte Anzahl an Testaten und Gutachten im Richten von Dressur- und Springprüfungen vorweisen kann. Die Grundrichterprüfung ist ab dem 21. Lebensjahr möglich. Zur Vorbereitung ist die Teilnahme an einem mehrtägigen Seminar obligatorisch. Schwerpunkte: praktisches Richten von Dressur- und Stilspringprüfungen der Klassen A und L, fundierte Kenntnisse der Reitlehre, Verständnis im Umgang mit Pferden, Kenntnisse zu Typ und Qualität des Körperbaus und Fachwissen rund um die LPO. Nach bestandener Prüfung und Bestätigung durch die Landeskommission dürfen die Richter dann Dressur und Springen bis zur Klasse L richten. Um Aufbauprüfungen und Prüfungen in Klasse M und höher richten zu können, müssen Zusatz- und Höherqualifikationen abgelegt werden. In der Regel benötigt man dafür mindestens zwei Jahre, in denen zahlreiche Testate, fachbezogene Theorieschulungen und auch ein Gutachten einzureichen sind, sowie eine Prüfung abzulegen ist. Um in der höchsten Klasse Richter zu werden, muss man von der Landeskommission in Abstimmung mit der Deutschen Richtervereinigung (DRV) und der FN vorgeschlagen werden. Die DRV und die zuständige Landeskommission haben gemeinsam das ausschließliche Vorschlagsrecht, eine Eigenbewerbung ist nicht möglich. Für eine internationale Laufbahn sind dann noch weitreichendere Voraussetzungen zu erfüllen, unter anderem mindestens drei Jahre Aktivität als Richter in den höchsten nationalen Klassen und ein Nachweis der sicheren Beherrschung der FEI-Sprache Englisch einschließlich der spezifischen Begriffe der Disziplinen in Wort und Schrift.

Egal auf welchem Platz: Richter sind auf dem Turnier nicht wegzudenken. Foto: Frank Sorge/galoppfoto.de

Feedback geben

Die Eingangsklassen im Dressur-Turniersport (Klasse E bis A) werden gemeinsam gerichtet, in der Dressur häufig mit zwei bis vier Reitern je Abteilung. Auf diesem Niveau freut sich Nicole Nockemann, wenn die Richter die Gelegenheit haben, den Reitern und auch den Umstehenden einen direkten mündlichen Kommentar zum Ritt mit auf den Weg zu geben. „Unsere Aufga be ist es hierbei, dass wir den häufig noch jungen Reitern mit Fachvokabular Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigen und Höhepunkte loben.“ Denselben Ansatz verfolgt sie in Dressurreiterprüfungen, wobei der Schwerpunkt der Kommentierung dann auf Sitz und Hilfengebung des Reiters liegt und da rauf, wie es gelingt, diese auf das Gerittensein des Pferdes zu übertragen. In den weiterführenden Klassen (L und M) wird gemeinsam oder auch schon mit Einzelnoten gerichtet. Das Richten mit Einzelnoten ist dabei für Richter eine anspruchsvolle Aufgabe: Sie sind allein und müssen in schneller Abfolge der Lektionen ihre Noten geben.

Rolle des Reitersitzes

Welche Rolle der Sitz des Reiters beim getrennten Richten spielt, erklärt Fünf-Sterne-Richter und Turnierfachmann Dr. Dietrich Plewa: „Technische Fehler führen zu einem Abzug in der Note für Sitz und Einwirkung. Dasselbe gilt allerdings auch dann, wenn zwar die ge- forderte Lektion technisch einwandfrei absolviert wird, aber ganz grundsätz- liche Anforderungen unzureichend er-üllt werden, zum Beispiel hinsichtlich der Anlehnung. Geht ein Pferd durchgehend vorhandlastig, mit engem Hals oder legt es sich auf das Gebiss, hat der Richter diese Defizite bei der Beurteilung des Reiters zu berücksichtigen.

Er muss davon ausgehen, dass die Einwirkung des Reiters im Viereck nicht ausreicht, um das Pferd in der geforderten Anlehnung zu präsentieren. Die Korrektheit des Sitzes muss während der gesamten Prüfung beachtet werden und in die Note einfließen. Insoweit ist kein Schema vorgesehen, zum Beispiel dahingehend, dass ein Punkt weniger vergeben wird, wenn der Reiter durchgehend mit zu hoher Hand führt. Wesentlich gravierender als die formale Nichterfüllung optimaler Anforderungen an den korrekten Sitz ist die Auswirkung von Sitzfehlern auf das Verhalten des Pferdes. So sollte der Richter spätestens bei der Note für Sitz und Einwirkung des Reiters einen Abzug vornehmen, wenn der Reiter mit klopfenden Unterschenkeln reitet, sodass das Pferd abstumpft, oder aber er den Sporen unsachgemäß einsetzt. Nach meinen Erfahrungen werden Sitzfehler oft nicht ausreichend berücksichtigt.“

Eine Frage der Perspektive: Ein Richter kann immer nur das beurteilen, was er aus seinem Blickwinkel heraus sieht, das Seitbild kann manchmal einen anderen Eindruck vermitteln als das Bild von vorne.

Auch Umwelteinflüsse wie Sonne oder Regen können die Sicht des Richters beeinflussen. Foto: Antje Jandke

Je nach Dressurprüfung und deren Leistungsklasse kommen verschiedene Richtverfahren zum Einsatz.

Die Perspektive macht’s

In den Dressurprüfungen ab Klasse M** wird das Richten mit Einzelnoten fast ausschließlich ausgeschrieben – ab Kl. S *** ist es obligatorisch. Drei bis fünf Kollegen bewerten individuell von verschiedenen Sitzpositionen aus. „Daher halte ich ein verallgemeinerndes Urteil wie ,Die sind sich aber wieder mal uneinig’ für wenig angemessen“, so Nicole Nockemann. „Wer sich wirklich intensiv mit dem Richten auseinandersetzt, wird nicht so voreilig urteilen. Ein Beispiel: Grußaufstellung – das Pferd steht zunächst gerade und geschlossen, ruht dann aber auf einem Hinterhuf. Der Richter bei C kann dies von vorne nicht erkennen und kann zu einer guten Wertnote kommen. Der Richter an der langen Seite muss diesen Mangel kommentieren und die Wertnote reduzieren. Dennoch haben alle aus ihrer Sicht ein korrektes Urteil gefällt.“ Für eine objektive Gesamtbeurteilung ist das Sitzen an verschiedenen Bahnpunkten sinnvoll.

Reit- und richtbar

In Springprüfungen sind grundsätzlich zwei Richter im Einsatz. Vor der Prüfung gehen und nehmen sie gemeinsam den Parcours ab. „Dabei müssen wir einschätzen, ob der Parcours reit- und richtbar ist“, erklärt Stephan Hellwig, internationaler Springrichter aus Hessen. „Reitbar bedeutet, dass die Distanzen gemäß den Richtlinien gebaut sind, dass es Sicherheitsauflagen gibt und dass Start- und Ziellinie vernünftig liegen. Richtbar bedeutet unter anderem., dass jeder Sprung vom Richterturm aus gut zu sehen ist. In Stilspringprüfungen und Springpferdeprüfungen muss ich beim Abgehen darauf achten, wie die Distanzen konzipiert sind, also ob sie beispielsweise eher enger oder eher weiter gebaut sind. Dann kann ich später einschätzen, wieso ein Reiter vielleicht sein Pferd vermehrt aufnimmt. Das ist in E- oder A-Springen noch nicht ganz so relevant wie in M-Springen – da muss viel präziser geritten werden. Und auch in S-Stilspringprüfungen, die es seit diesem Jahr in der neuen LPO 2024 gibt.“ Der erste setzt die Messlatte Bei der Notenfindung hilft der Leitfaden des Regelwerks: Bewertet werden in Stilspringprüfungen der leichte Sitz, das Einfühlungsvermögen, Einwirkung und Rhythmus. In Springpferdeprüfungen geht es um die Technik, das Galoppier- und das Springvermögen. „Wichtig ist: Das erste Teilnehmerpaar setzt das Niveau der ganzen Prüfung fest“, betont Stephan Hellwig. „Die Note kann ich nicht zurücknehmen, da muss man reell sein. Man darf nicht zu hoch oder zu niedrig einsteigen, ansonsten bekommt man später das Teilnehmerfeld nicht mehr auseinander. Da bekommt man aber Routine.“

Der Springrichter hat sich angewöhnt, die Ritte zu kommentieren – dann weiß der Kollege auf dem Richterturm, was er sieht. „In einem Springen ist es wichtig zu schauen, wie die Teilnehmer mit der erlaubten Zeit klarkommen. Denn ich habe nur drei Ritte ohne Verweigerung, Sturz oder Ablauf des Countdowns Zeit, um die erlaubte Zeit noch zu verändern. Ich darf nie vergessen, fünf Strafsekunden in einem Stilspringen sind wie ein Abwurf. Bei der Beurteilung muss ich sehen, ob die Zeit reell ist.“

In Stilspringprüfungen werden der leichte Sitz, das Einfühlungsvermögen, Einwirkung und Rhythmus bewertet.

Überfordert und nun?

Besonders kritisch sind dabei auch für Richter Situationen, in denen Pferde oder Reiter offensichtlich mit den gestellten Aufgaben überfordert sind. „Wir Turnierfachleute werden im Umgang mit solchen Situationen geschult und dennoch ist letztendlich jede dieser Situationen einzigartig und individuell“, so Nicole Nockemann. „Es braucht hierfür immer Erfahrung und gleichsam Entschlussfestigkeit, um direkt handeln zu können. Als Richter bei C im gemeinsamen Richten spricht man sich kurz ab und unterbricht dann die Prüfung durch ein Glockenzeichen. Sodann ist mit dem Reiter Kontakt aufzunehmen und zu beraten, ob die Prüfung eventuell weitergeführt werden kann.“ Denn die Gründe können sehr vielseitig sein, betont sie. So ist zum Beispiel für ein noch unerfahrenes, junges Pferd mit einem erfahrenen Reiter die bessere Lösung, dass man dem Paar die Möglichkeit gibt, die Prüfung unter Trainingsaspekten noch zu beenden, ohne dass es zu einer Bewertung kommt. Die LPO 2024 schafft umfangreiche Möglichkeiten für solche Korrekturrunden.

Eine nicht in jedem Moment ideale Kopf-Hals-Haltung des Pferdes berücksichtigt der Richter in der Beurteilung des Rittes. Hierbei unterscheidet er zwischen Momentaufnahme und Dauerzustand.

Sind Reiter und Pferd mit einer Aufgabe komplett überfordert oder kam es nur zu einer unglücklichen Situation? Dies zu beurteilen und entsprechend zu reagieren, ist auch Aufgabe der Richter.

Mit Augenmaß

Sind hingegen Reiter und/oder Pferd in Gefahr, kann die Prüfung nicht fortgesetzt werden. Dietrich Plewa sagt: „Von einem ,happy athlete’ kann nicht die Rede sein, wenn das Pferd mit offenem Maul, sichtbarer oder gar herausgestreckter Zunge geht, häufiges Schweifschlagen oder deutlich hörbares Zähneknirschen zeigt. Das sind Symptome fehlender Losgelassenheit. Sie signalisieren, dass das Pferd sich nicht in seiner Komfortzone befindet. Daher muss der Richter in seiner Bewertung die Hinweise auf mangelnde Harmonie zum Ausdruck bringen. Der außenstehende Betrachter sollte allerdings nicht den Fehler machen, aus der Tatsache, dass eine einzelne Lektion zum Beispiel mit ,ziemlich gut’ bewertet wird, den Rückschluss zu ziehen, dass der Richter ein Zähneknirschen oder Schweifschlagen gar nicht berücksichtigt hat. Es könnte sich durchaus um das Ergebnis der Erwägung handeln, dass die technische Ausführung mit ,gut’ zu bewerten war, unter Einbeziehung des Hinweises auf fehlende Zufriedenheit des Pferdes aber ,nur’ ein ,ziemlich gut’ vergeben wird.“

Überforderung in Bahnen lenken

„Ich habe auch schon Teilnehmer abgeklingelt, weil sie oder das Pferd offensichtlich überfordert waren“, berichtet Stephan Hellwig und führt aus: „Da muss man dann aber auch für geradestehen. Ich achte darauf, ob mir eine kritische Situation kopflos erscheint und wie der Reiter drauf ist. Wenn ich das Gefühl habe, da reitet jemand zornig zurück auf den Abreiteplatz, nehme ich mit dem zuständigen Kollegen auf dem Abreiteplatz Kontakt auf, damit der Teilnehmer dort weiter begleitet wird. Nacharbeit mit Sinn und Verstand ist in Ordnung, alles andere nicht. Gerade bei Jugendlichen in solch einer Situation mache ich gern eine spontane Ausrüstungskontrolle. Der Teilnehmer soll dann selbst den Sattel lösen, die Gamaschen entfernen und so weiter. Dann haben sie am Ende gar keine Lust mehr, nochmal groß nachzuarbeiten. Bis das alles wie- der verschnallt ist, ist der Frust verflogen. Solche Situationen kommen allerdings nicht so oft vor. Es kommt auch immer darauf an, wie man die Reiter anspricht – man sollte nicht oberlehrerhaft auftreten, sondern die Situation respektvoll und wertschätzend besprechen und dann eine Lösung finden, die allen gerecht wird. Das ist die Verantwortung des Sports, deshalb bin ich Richter geworden. Wir müssen Verantwortung dem Pferd gegenüber übernehmen.“

Wächter des Pferdes

Eines ist Nicole Nockemann noch wichtig zu betonen: „Es sollte für jeden selbstverständlich sein, dass alle die ethischen Grundsätze leben und lehren und das Tierwohl immer achten – und zwar nicht nur auf dem Turnierplatz. Turnierfachleute sind immer auch ,Wächter des Pferdes’“, erinnert sie. „Diese Ämter sind sehr relevant, denn wir alle wollen pferdegerechten und fairen Sport!“

Laura Becker

Die Experten

Nicole Nockemann (Jahrgang 1971) arbeitet bei der Deutschen Bank. Sie ist selbst erfolgreich geritten, siegreich bis Dressur Klasse S** (Goldenes Reitabzeichen Dressur), ist zudem Pferde-Physiotherapeutin, Ausbilderin, Referentin und Lehrgangsleiterin, Mitglied im Fachausschuss Dressur der DRV und dort auch Gutachterin. Als FN-Richterin richtet sie nationale Dressurprüfungen bis Grand Prix (Springen bis Klasse M) und absolvierte 2022 auch die internationale Prüfung für FEI-Level 2 (3*).

Dr. Dietrich Plewa (Jahrgang 1947) ist Rechtsanwalt, Richter und Turnierfachmann. Zu seiner aktiven Zeit sammelte er in der Dressur 150 S- und 30 Grand-Prix-Sie- ge. Er war Fünf-Sterne-Richter und widmet sich nun vermehrt Jungpferdeprüfungen. Er ist Gutachter innerhalb der Deutschen Richtervereinigung (DRV) und bringt sich als Referent und Prüfer in die Aus- und Weiterbildung der Turnierfachleute ein.

Stephan Hellwig (Jahrgang 1971) ist Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens. Er ist selbst Springen bis 1,30 Meter geritten und hat seine Richterlaufbahn als Parcourschef und FEI-Steward Level 3 begonnen. Er ist FEI-Springrichter Level 3, DRV-Gutachter und Referent sowie Prüfer in der Aus- und Weiterbildung von Turnierfachleuten.

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