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Persönlichkeiten der Pferdeszene: Katrina Wüst

Dem Sport verbunden

Katrina Wüst kennt die Dressurvierecke dieser Welt. Zunächst saß sie selbst im Sattel, seit rund 30 Jahren nimmt sie am Richtertisch Platz. Bewegt hat die Fünf-Sterne-Richterin viel, besonders im Kürreiten. Ein Leben aus dem Blickwinkel bei C.

Alle Fotos: Jacques Toffi

Die Szene könnte passender nicht sein: Ein Dressurviereck, das mit Blumen turnierdekoriert ist, der Boden ist frisch abgezogen. Das Teilnehmer- und Zuschauerzelt an der langen Seite bietet Schatten und Sitzgelegenheiten. Hier hat Katrina Wüst Platz genommen, sie hat Pause zwischen zwei Prüfungen, eine Tasse Kaffee schlägt sie aus, sie hat einen Energydrink dabei, „gegen den niedrigen Blutdruck“. Energie scheint sie allerdings mehr als genug zu haben. Aus den Lautsprechern erklingt gedämpft Musik, Lieder aus den Charts, den 80ern und 90ern, und die Fünf-Sterne-Dressurrichterin wippt mit dem Kopf im Takt mit. Musik liegt ihr – eine disziplinierte Ausbildung am Klavier legte den Grundstein dafür. Ihr Vater war großer Mäzen des Geigers Zimmermann und der Festspiele in Bayreuth, das prägte. Sie ist ein Hardrockfan, mag die Toten Hosen, die Stones und die Beatles. Ihr Faible für Musik war sicherlich mit ein Grund dafür, dass sich die 72-Jährige, die stets ein Lächeln auf den Lippen trägt, zur Expertin in Sachen Kürreiten entwickelt hat. „Ich richte unheimlich gern Küren. Gute Küren! Dabei bin ich eigentlich mehr ein visueller Typ. Aber spannend daran finde ich, wie die Reiter ihr Pferd analysieren, wie sie die Stärken ausspielen und ob sie es schaffen, ihre Schwächen zu verstecken, anstatt sie den Richtern auf dem Silbertablett zu servieren. Natürlich auch wie sie die Lektionen choreografisch platzieren, mit Musik untermalen und die Dramatik langsam steigern…“, erläutert Katrina Wüst mit hellwachem Blick.

Objektiv schwierig

Die Wahl-Bayerin, die ursprünglich aus dem Rheinland stammt, war es auch, die 2015 ein neues Kür-Bewertungssystem für große internationale Turniere und Championate initiiert hat, um mehr Gerechtigkeit für die Reiterinnen und Reiter zu schaffen. Entzündet hatte sich die Idee in London an der Kür von Totilas, die relativ einfach war und trotzdem mit höchsten Noten für den Schwierigkeitsgrad bewertet worden war. Das sorgte für Unmut. „Schon 2010 hatte die FEI eine Dressur-Task-Force mit der Eislauf-Union und der internationalen Fédération für Gymnastik zusammengebracht, wo wir uns angehört haben, wie in anderen Sportarten bewertet wird. Da ist mir aufgefallen, dass wir in der Dressur keinen Kriterienkatalog für den Schwierigkeitsgrad in den Küren haben. Die Passage-Traversalen, doppelten Pirouetten und Piaffe-Pirouetten sind die einzigen schweren Lektionen im Grand Prix, der Rest sind Lektionskombinationen und schwierige Übergänge wie zum Beispiel vom Halten direkt in die Passage.“

Basierend auf 300 Küren, die Katrina Wüst zusammen mit Daniel Göhlen, dem Initiator von Black Horse One, analysiert hat, wurde ein Katalog erstellt, der von der FEI, dem Reiter- sowie dem Trainerclub gutgeheißen wurde. Das Bewertungssystem beruht nun darauf, dass die Reiterinnen und Reiter vorab ihre Kür einreichen, die Richterin oder der Richter alle Lektionen wie gehabt bewertet und ein Computer den Schwierigkeitsgrad errechnet. Allerdings zählt jede Schwierigkeit nur, wenn sie für mindestens eine sieben gezeigt wurde und es gibt Abzüge, wenn sie misslingt, um die Pferde nicht zu überfordern.

Von Pferden umgeben, doch meist aus kritischer Distanz im „Häuschen“ und selten so nah dran.

Musik und Noten

Die korrekt ausgeführten Lektionen sind das eine, die passende Musikauswahl das andere. „Viele Reiter kalkulieren in der Kür nicht mit ein, dass auch die Ohren von uns Richtern müde werden. Wir müssen so viel beachten: Zuerst müssen wir herausfinden, was will er oder sie zeigen und wie gut gelingt es, wie ist die Raumaufteilung, hebt die Choreografie die Qualität des Pferdes hervor, wie hoch ist der Schwierigkeitsgrad, …? Wenn dann noch unharmonische Musik dazukommt, die nicht mit dem Ablauf des Pferdes übereinstimmt, findet wohl kein Richter zu den erwünschten Höchstnoten. Auf keinen Fall sollte man seinen eigenen Geschmack zugrunde legen – wenn die Musik zu allen Gangarten und Übergängen und möglichst noch zum Typ von Reiter und Pferd passt, sind schon zwei wichtige Kriterien für eine gute Note erfüllt. Gute Musik muss Emotionen schaffen, man kann sie geradezu ‚sehen‘. Trotzdem sollten wir nie vergessen: Es ist die Note für die Harmonie, das gute, pferdegemäße Reiten, das die Kür dominiert. Wenn die Harmonie nicht stimmt und der Reiter viele Fehler macht, ist die Choreografie meistens falsch gewählt und zu schwer und das schlägt sich auch in der Note für den Schwierigkeitsgrad und gegebenenfalls für die Musik nieder, die dann nicht mehr passt.“

Musik ist zum Tanzen da – nicht nur für Pferde im Viereck.

Zwei Expertinnen unter sich: Fachsimpeln mit Isabell Werth.

Erste Schritte mit Pferd

Das Dressurviereck ist Katrina Wüsts Leben – schon immer gewesen. Geboren (1950, Familienname Hilger-Henkel) und aufgewachsen ist sie in Düsseldorf und sie erzählt, dass sie als Kind relativ unsportlich war, aber sehr tierlieb. Ein Pony hatte sie sich schon immer gewünscht, stattdessen bekam sie aber von ihren Eltern einen Dompfaff. Der innige Wunsch blieb und „mit zehn Jahren ging’s dann nicht mehr anders für meine Eltern“. Bedeutete, Katrina durfte anfangen zu reiten. Und sie hatte „sehr, sehr großes Glück“, denn der Reitstall, der in Fahrradnähe lag, war einer der führenden deutschen Dressurställe. Bei Robert Schmidtke, einem Schüler Otto Lörkes, bekam sie ihre ersten Longenstunden, anschließend kam sie unter die Fittiche von Stallbesitzerin Schusky sowie Hans Hoffmann, ebenfalls ein Lörke-Schüler. Sie putzte die Pferde und durfte dafür ab und zu eines der Grand Prix-Pferde reiten. Zur Konfirmation mit 14 Jahren bekam sie schließlich ihr erstes eigenes Pferd. „Charly ging M-Dressur, aber war nicht so einfach durchs Genick zu reiten. Wir haben im Stall auch später immer mal jüngere Pferde eingeritten und ihnen fliegende Wechsel beigebracht. In die ganze Reiterei bin ich ohne Druck und größeren Ehrgeiz reingewachsen, das war in den 1960er Jahren noch sehr entspannt.“

Fotogen im Stil einer Ikone: Katrina Wüst sagt über sich selbst, sie habe keine besonderen Talente, sei nur an vielem interessiert.

Studium und Reiten

Nach ihrer Schullaufbahn, in der sie zwei Klassen übersprungen hat, zog sie vorübergehend nach Freiburg, um Germanistik, Amerikanistik und Sprachwissenschaften zu studieren. Dann kam sie zurück und trainierte mit Fritz Tempelmann, mit dessen Hilfe sie sich in anderthalb Jahren von Beginn der Klasse S bis in den B-Kader hocharbeitete. Da war sie 23 Jahre alt. „Ich habe in den Semesterferien drei Sommer lang morgens sehr früh zusammen mit seinen Lehrlingen die Berittpferde gelöst und warm geritten, das hat mir unheimlich viel gebracht, denn bei ihm war die Devise immer locker, locker, locker.“

Auf nach Bayern

Im Zuge des Studiums zog sie schließlich Mitte der Siebziger mit dem Zahnarzt Dr. Bernd Wüst, den sie mit 18 Jahren im Rheinland kennengelernt hatte, nach München. 1982 wurde geheiratet und das erste Kind kam zur Welt. Zwei weitere sollten noch folgen. „In Bayern war in der Reiterei damals noch nicht so viel los wie im Norden. Deshalb hieß es: weit fahren, um den Anschluss auf den großen Turnieren zu halten. Es war eine unheimlich schöne Zeit mit Freundschaften, die heute noch bestehen. Nur mein Studium litt darunter.“ Nach fünf bayerischen Meistertiteln in Folge sollte die Turnierkarriere noch weiter ausgebaut werden und Familie Wüst kaufte 1981 zehn Hektar Land im Erdinger Moos, um eine Reitanlage mit 16 Boxen nach eigenen Vorstellungen zu bauen. Doch die Turnierreiterei auf höchstem Niveau wurde trotz einer Reihe guter Pferde im Stall mit drei kleinen Kindern zu zeitaufwändig.

Beginn der Richterlaufbahn

Verhältnismäßig früh legte Katrina Wüst deshalb die Richtergrundprüfung ab – „sogar im Springen, von dem ich nichts verstehe“ – um weiter mit dem Sport verbunden zu bleiben. Für die Inhaberin des Goldenen Reitabzeichens ging es schnell und ab 1994 konnte sie sich international nennen. Bis zur Fünf-Sterne-Richterin musste sie seinerzeit allerdings zwölf Jahre warten, bis einer der Kollegen altersbedingt ausschied – damals noch die gängige Praxis. Ihr erstes Championat waren Junioren-Europameisterschaften und insgesamt hat sie fünf Pony-Europameisterschaften gerichtet. „Die Pony-Euros habe ich geliebt. Kinder haben so einen natürlichen Sitz und die Ponys sind traumhaft.“ Geprägt war sie dabei etwas vom bekannten Palominohengst Derano Gold, mit dem ihre Tochter manche Erfolge feierte und den sie zu Hause immer mal wieder selbst reiten durfte. „Am schönsten war die EM in Pratoni, da saß die deutsche Mannschaft zu meiner größten Freude auf vier Nachkommen unseres Ponys.“

Für Children engagiert

Besonders lag Katrina Wüst die Einführung der Altersklasse der Children am Herzen, für die sie sich bei der FEI stark gemacht hat. „Ich habe mich sehr dafür eingesetzt, dass die Children-Prüfungen populär werden, denn es steckt in den meisten Fällen auch eine soziale Idee dahinter: Das Ergebnis der Prüfung ist nicht in erster Linie vom Geldbeutel der Eltern abhängig, denn es steht nicht die Qualität des Pferdes im Vordergrund, sondern das gute Reiten. Man bringt die Reiter auf den richtigen Ausbildungsweg, bewertet werden Sitz, Einwirkung und Bewegungsgefühl, die Präzision der Hufschlagfiguren und den Gesamteindruck. Die Grundgangarten dagegen haben keine große Bedeutung. Wir Richter haben da eine große Verantwortung für die Zukunft unseres Sport weltweit.“

Appell an die Verantwortung

Überhaupt ist Verantwortung etwas, das Katrina Wüst vorantreibt: „Als Richter müssen wir dafür sorgen, dass unser Sport pferdegerecht und fair bleibt: Ein Tennisschiedsrichter kann in der Regel nur Punkte zählen, in der Leichtathletik sind es Stoppuhr oder Maßband, aber beim Reiten können wir den Sport mitgestalten und beeinflussen. Mit unserem Votum sagen wir, was wir sehen und was wir nicht sehen wollen, und dieser Verantwortung müssen wir versuchen gerecht zu werden, indem wir optimal vorbereitet, respektvoll und unvoreingenommen an jeden Ritt herangehen. Zudem auch noch alles so formulieren, dass es den Reiter motiviert und die Guten in ihrer Reitweise bestärkt.“ Was sie dagegen ärgert sind oberflächliche Urteile. „Es gibt spektakuläre Lektionen wie Trabverstärkungen, da schaut jeder hin. Aber bei unauffälligen, kleinen Lektionen wie dem Rückwärtsrichten, einer Schrittpirouette oder dem letzten Halten sind manche Zuschauer wenig fokussiert. Dabei zählen die meist so viel wie ein optisches Highlight. Und wenn sich dann Leute über eine vermeintlich falsche Platzierung aufregen, haben sie diese Lektionen meist nicht realisiert. Hilfreich ist dabei das Spectator-Judging, das zu einer genauen Betrachtung der gesamten Aufgabe zwingt und zu mehr Verständnis für die Urteile der Richter führt.“

Modisch unterwegs auf dem Turnier: Katrina Wüst (links) gemeinsam mit Richterkollegin Dr. Evi Eisenhardt.

Kann privat auch anders: Die sonst stets akkurat gekleidete Katrina Wüst hat auch mit Farbkleksen übersäht zuhause beim Renovieren Spaß.

Bis zu Olympischen Spielen

Neben zahlreichen Jugendchampionaten und fünf Weltcup-Finals kam Katrina Wüst, die mit dem Bayerischen Verdienstorden ausgezeichnet wurde und für ihr unermüdliches Engagement im Dressursport das Deutsche Reiterkreuz in Silber erhielt, auch mehrfach bei bedeutenden Championaten zum Einsatz wie bei der EM in Windsor 2009 und in Aachen 2015, der WM in Tryon 2018 und war – als Höhepunkt ihrer richterlichen Laufbahn – Präsidentin der Jury in Tokio bei den nachgeholten Olympischen Spielen 2021. Für die FEI ist sie in mehreren Gremien beratend im Einsatz, zum Beispiel in der Arbeitsgruppe für die internationalen Aufgaben oder als „Course Director General“ zur Schulung der jüngeren Richterinnen und Richter weltweit. Sie macht das mit viel Herzblut und ist davon überzeugt, dass das Richten weltweit immer besser wird. „Natürlich gibt es Länder, die neu im Dressurgeschehen sind, und da muss man mehr Hilfestellung leisten, denn auch dort haben die Reiter einen Anspruch auf eine fachgerechte Beurteilung, aber mit Online-Seminaren lässt sich da schon viel machen. Und meistens sind die Richter aus diesen Ländern sehr dankbar und wollen lernen.“

Vielseitig interessiert

Ursprünglich wollte Katrina Wüst, die von sich selbst sagt, sie sei Bayerin wie Rheinländerin gleichermaßen, gerne Fotografin werden. Noch heute ist sie sehr interessiert an Kunst, besonders moderner Malerei. Wenn möglich, sucht sie manchen Turniereinsatz nach den Sehenswürdigkeit aus, die es in der Nähe gibt, geht auf Safaris, macht Stadttouren und besucht Museen. Bescheiden sagt sie: „Ich bin unheimlich mittelmäßig, ich habe keine besonderen Talente, ich bin nur an vielen Sachen interessiert.“

An ihrer Familie hängt Katrina Wüst sehr – „ich bin eine bessere Mutter als Ehefrau“ – und versucht, ihre Energien aufzuteilen zwischen Familie, Richten und ihren sonstigen Interessen. Auf die Frage, wie viel sie das ganze Jahr über für die Pferde unterwegs ist, sagt sie: „Nicht mehr als ein Drittel meiner Zeit…“ Kurzes Nachdenken… „Naja, wahrscheinlich sind es 50 Prozent…“ Derweil ertönt aus den Lautsprechern am Viereck „Let’s twist again“. Es dauert nicht lange, bis Katrina Wüst beginnt, mit ihrem Oberkörper in den Takt der Musik einzustimmen, mit der Hand klopft sie rhythmisch auf den Tisch. „Schöne Musik, oder? Die nimmt einen richtig mit.“

Laura Becker

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