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Lernverhalten des Pferdes

Wie lernen Pferde Reiterhilfen?

Vor allem am Anfang ihres Weges lernen Reiter nicht nur ausbalanciert auf dem Pferd zu sitzen, sie müssen auch lernen, auf das Pferd via Hilfengebung einzuwirken. Woher aber weiß ein Pferd überhaupt, was es auf diese Hilfen hin tun soll? Dressurausbilderin und Sportwissenschaftlerin Dr. Britta Schöffmann, Autorin von Buch und Lehrfilm „So lernen Pferde Reiterhilfen“, erklärt, wie Pferde das bewerkstelligen.

Das junge Pferd muss erst lernen, was der Reiter ihm mit seinen Hilfen sagen möchte. Die treibende Hilfe zeigt dem Pferd den Weg, reagiert es, wird sie ausgesetzt – eine Form der negativen Verstärkung. Fotos (4): Thoms Lehmann/FN-Archiv

Einseitig belastende Gewichtshilfe, annehmende Zügelhilfe, vorwärts- oder seitwärtstreibende Schenkelhilfe – bis der Reiter derartige Hilfengebung präzise beherrscht und auf unterschiedlichen Pferden sicher anwenden kann, können Jahre vergehen. Denn durch die Partnerschaft mit dem Lebewesen Pferd ist kein Sport mit dem Reiten vergleichbar. Kein Sport bringt solch komplexe Anforderungen mit sich. Der eigene Körper muss beherrscht werden, bevor er den Körper des Pferdes beeinflussen und formen kann. Der Reiter muss sich den dreidimensionalen Bewegungen des Pferdes anpassen können, diese möglichst nicht stören, das Pferd und seine Bewegungen begleiten, über Hilfen kontrollieren und via Hilfenkombinationen, sprich Einwirkung, die gymnastizierenden und Kraft aufbauenden Abläufe verbessern. Dabei muss er in der Lage sein, sich nicht nur auf die unterschiedlichsten Pferdekörper und deren individuelle Bewegungsabläufe einzustellen, er muss auch begreifen, dass jedes Pferd als eigenständiges Individuum ein wenig anders tickt und entsprechend angepasst zu behandeln und zu arbeiten ist. Eine lebenslange Lernherausforderung, die vom Reiter Fleiß, Talent, Reflektionsfähigkeit, Lernbereitschaft und vieles mehr verlangt.

Vertrauen als A und O

Aber wie sieht es mit dem Pferd aus? Wie lernt das Pferd die Reiterhilfen? Wer einmal auf einem jungen, gerade angerittenen Pferd gesessen hat, weiß, dass die (gewünschten) Reaktionen auf die Reiterhilfen nicht angeboren sind. Auf leichten Zug am Zügel mag der eine Youngster tatsächlich abbremsen, der andere läuft hingegen einfach weiter. Die „Lenkung“ klappt auch noch nicht so recht und die erste treibende Schenkelhilfe erzeugt bei vielen Pferden eher ein verdutztes Stocken als ein fleißiges Vorwärtsgehen. Ein erfahrener Reiter wird in diesen Augenblicken wissen, wie er vorgeht, um dem Pferd diese Einwirkungen zu „erklären“, der unerfahrene Reiter wird vermutlich vieles falsch machen. Denn das Pferd muss erst lernen, was die Aktionen des Reiters bewirken sollen. Als Grundlage für erfolgreiches Lernen braucht das Pferd vor allen Dingen Vertrauen zum Menschen. Dabei lernen Pferde – so wie viele Tiere – zum einen durch Nachahmung, zum anderen durch Gewöhnung sowie durch Konditionierung. Klingt kompliziert und theoretisch, ist aber bei näherem Hinsehen recht einfach zu verstehen.

Kleine Häppchen

Lernen durch Nachahmung soll hier nicht weiter vertieft werden, denn es hat beim Begreifen von Reiterhilfen eine eher untergeordnete Bedeutung. Wichtiger ist da schon das Lernen durch Gewöhnung (Habituation). Dieses basiert auf dem Wunsch beziehungsweise der Notwendigkeit, einem Lebewesen, hier dem Pferd, beizubringen, nicht mehr zu reagieren. Das ist wichtig, denn das Pferd als Fluchttier würde sonst auf Unbekanntes oder Beängstigendes mit mehr oder weniger ausgeprägtem Fluchtverhalten reagieren und sich und seinen Reiter womöglich in Gefahr bringen. Auf Basis von Gewöhnungstraining lernt das Pferd mit Alltagssituationen wie Putzen, Anbinden und Hufe auskratzen aber auch laut zuschlagenden Türen, vorbeifahrenden Fahrrädern oder Autolärm stressfrei umzugehen. Beim Umgang mit dem Pferd wird hier vor allem das Instrumentarium der systematischen Desensibilisierung eingesetzt, bei dem Unbekanntes nach und nach, quasi in kleinen Häppchen, präsentiert wird, bis das Pferd nicht mehr darauf reagiert. So gelingt die Gewöhnung an den aufgespannten Regenschirm nach demselben Prinzip wie die Gewöhnung an Halfter, Trense oder Sattel.

Durch Gewöhnung in Form systematischer Desensibilisierung lernt das Pferd, dass ein Regenschirm gar nicht so gruselig ist, wie er vielleicht auf den ersten Blick erscheint.
Foto: Thoms Lehmann/FN-Archiv

Lob durch Streicheln ist eine Form der positiven Verstärkung – allerdings muss es immer unmittelbar erfolgen und ist daher während des Reitens nicht immer das Mittel der Wahl.
Foto: Stefan Lafrentz/FN-Archiv

Positiv und negativ

Gewöhnung an Reiterhilfen ist allerdings nur bedingt erwünscht, denn ein Nicht-Reagieren ist ja eben das, was normalerweise nicht passieren soll. Genau hier greift das Instrument der Konditionierung, genauer gesagt, die sogenannte operante Konditionierung. Dabei wird nach dem Prinzip von Reiz und Reaktion gewünschtes Verhalten wahrscheinlicher gemacht und unerwünschtes Verhalten unwahrscheinlicher. Erst ein bestimmtes Verhalten des Pferdes löst einen Reiz aus und nach einer Weile stellt das Pferd einen Zusammenhang zwischen seinem Verhalten und dem Ergebnis her – vorausgesetzt, die Verstärkung dieses Reizes erfolgt. Eine Verstärkung kann über Hinzugabe einer Belohnung oder durch Wegnehmen einer Einwirkung erfolgen, wissenschaftlich spricht man hier von „positiver Verstärkung“ und von „negativer Verstärkung“. Vor allem die negative Verstärkung bildet das Kernstück aller Zügel- und Schenkelhilfen. Nun gibt es manche Reiter, die bei dem Begriff „negativ“ gleich abwehrend die Hände heben und ausrufen „Mein Pferd wird nichts Negatives durchmachen müssen!“ Dabei entstammen diese Begriffe der Verhaltenswissenschaft und stellen keine Wertung dar. Positiv steht vielmehr für „Hinzufügen“, negativ für „Wegnehmen/Entfernen“. Positiv verstärken lässt sich ein Verhalten beziehungsweise eine Reaktion mit einer Belohnung, negativ verstärken über Wegnahme von Druck. Oh je, die nächste abwehrende Handbewegung mancher Reiter. „Ich übe keinen Druck auf mein Pferd aus“, heißt es dann schnell empört. Dabei ist Druck zunächst einmal nichts weiter als eine physikalische Größe. Und die muss nicht hoch sein. Selbst eine Fliege übt auf dem Pferdekörper Druck aus, wenn auch nur minimal.

Das Einmaleins lernen

Vor allem Zügel- und Schenkelhilfen funktionieren über eine Erhöhung und Verminderung von Druck. Richtig angewendet, begreift ein Pferd zum Beispiel nach einiger Zeit, dass der – vielleicht minimal lästige – Schenkeldruck einer vortreibenden Schenkelhilfe umgehend reduziert wird, wenn es darauf mit einem Mehr an Vorwärts reagiert. Der Druck wird gesetzt, das Pferd reagiert wie gewünscht, der Druck wird wieder entfernt. Nach und nach stellt das Pferd eine Verbindung zwischen seinem Verhalten, hier dem Vorwärtsgehen, und der Druckreduzierung her – und lernt. Das Gleiche gilt für die ersten Zügelhilfen, die zunächst einmal nur die „Bremse“ etablieren sollen. Der (lästige) Zügeldruck steigt ein wenig an, das Pferd bremst ab, der Zügeldruck verschwindet. Dies ist quasi das Einmaleins der Hilfengebung.

Nach einer gewissen Zeit lernen Pferde dann noch die Zwischentöne dieser reiterlichen Einwirkungen kennen, können zwischen vorwärts- und seitwärtstreibenden Hilfen unterscheiden, zwischen annehmenden, durchhaltenden oder verwahrenden Zügelhilfen. Voraussetzung ist natürlich immer, dass der Reiter in der Lage ist, diese Hilfen präzise zu geben. Ohne einen ausbalancierten Sitz und ein gutes Gefühl für Timing, Dosierung und Eindeutigkeit sowie Verständnis für die Natur des Pferdes geht zielführende negative Verstärkung nicht. Daher gilt der alte Grundsatz, wonach auf ein junges Pferd ein erfahrener Reiter gehört, nach wie vor.

Lebenslang lernen – für Pferd und Reiter gleichermaßen wichtig sind gute Lehrer, die den Lernprozess begleiten und das nicht nur zu Beginn der Reitausbildung. Foto: Stefan Lafrentz/FN-Archiv

Belohnung und Timing

Haben Pferde beispielsweise die Galopphilfe erst einmal auf korrekte Art und Weise gelernt und abgespeichert, können sie diese auch generalisieren, das heißt auch abrufen, wenn sie von unterschiedlichen Reitern verlangt wird – was wiederum erklärt, warum das gute Lehrpferd immer zunächst eine gute Ausbildung erfahren muss, bevor es Reitanfängern helfen kann, das Angaloppieren zu erlernen. Eine ziemliche beeindruckende Lernleistung! Warum die Sache mit der positiven Verstärkung bei der Anwendung der Reiterhilfen und damit bei der Ausbildung eines Pferdes nicht immer funktionieren kann, liegt auf der Hand. Positiv heißt ja ein Hinzufügen, in diesem Fall das Hinzufügen einer Belohnung. Eine echte Belohnung ist zum Beispiel die Gabe von Futter (Leckerli) oder auch soziale Zuwendung (Tätscheln, Fellkraulen und Ähnliches). Bei der Bodenarbeit kann das funktionieren, denn auf eine gelungene Aktion kann die Belohnung zeitlich direkt gesetzt und somit positiv verstärkt werden. Vom Sattel aus ist das schon schwieriger. Man stelle sich vor: Fliegende Galoppwechsel zu zwei Tempi. Nach jedem gelungenen Wechsel will der Reiter das Pferd über Belohnung positiv verstärken. Das kann nicht klappen. Alternativ am Ende der Wechselreihe? Anhalten, sich vornüber beugen und Belohnung ins Maul? Da belohnt der Reiter eher das Halten und das Wenden des Pferdekopfes als die Serienwechsel.

Stimmeinsatz

Hier lässt sich die Stimme hilfreich einsetzen, und zwar als sogenannter sekundärer, also quasi zweitrangiger Verstärker. So kann ein Pferd zum Beispiel lernen, dass ein Schnalzen in Verbindung mit einer klaren treibenden Schenkelhilfe zu mehr Aktivität auffordert. Nach einiger Zeit reicht allein ein leiser Schnalzer aus, um ein wenig mehr Fleiß zu erhalten. Noch wichtiger ist das Stimmlob, das der Reiter setzen kann. Ein am Boden vielleicht schon über positive Verstärkung etabliertes „Brav“ lässt sich im Sattel bei gelungenen Aktionen zeitgenau und ohne Aufwand einsetzen. Verbindet das Pferd dies mit etwas Angenehmen, dann reicht das für den Moment und kommt als Lob beim Pferd an.

Alle Hände voll zu tun und gerade kein unmittelbares Lob möglich? Dann kann die Stimme als Lob eingesetzt werden – am besten, man etabliert sie zuvor am Boden als positive Verstärkung.

Das Pferd als Lehrmeister: Gut ausgebildete Pferde können Hilfen generalisieren, verstehen sie also auch, wenn sie von unterschiedlichen Reitern in jeweils leicht abgewandelter Form kommen.

Mit Impulsen lenken

Wer sich diese Zusammenhänge einmal vor Augen führt, versteht auch, warum fehlerhafte Hilfengebung zu Fehlern führt. Es ist niemals das Pferd, das den Reiter mit Fehlern ärgern will – Pferde kennen ja sowieso kein Falsch und kein Richtig. Es ist immer eine falsche Einwirkung, die ein nicht gewünschtes Ergebnis verursacht. Beispiel Schenkelweichen: Manche Reiter versuchen, ihr Pferd mit dem seitwärtstreibenden Schenkel zur Seite zu drücken und ärgern sich, wenn der Vierbeiner zögerlich reagiert oder gegen den Schenkel drängt. Dabei ist es die fehlerhafte Schenkelhilfe, die das Problem heraufbeschwört. Was hier fehlt, ist der zum seitwärts Treten auffordernde Impuls. Ein Impuls ist immer eine kurze Druckerhöhung, auf die bei Reaktion des Pferdes, hier also bei einem Schritt oder Tritt zur Seite, umgehend die kurzzeitige Wegnahme des Drucks folgt. Für das Schenkelweichen hieße das also: seitwärts treibend Druck erhöhen, Schritt seitwärts/Schenkel lockern, seitwärts treibend Druck erhöhen, Schritt seitwärts/Schenkel lockern und so weiter. Das kurzzeitige Aussetzen des Drucks ist hier die negative Verstärkung und führt beim Pferd zum Begreifen der Einwirkung und der Lektion.

Der Reiter als Lehrer

Ähnliches gilt zum Beispiel auch für eine durchhaltende Zügelhilfe. Die Erhöhung des Drucks auf das Pferdemaul entsteht hier als Reaktion auf eine treibende Hilfe, durch die die Hinterbeine vermehrt unterfußen und die Masse des Pferdes Richtung Gebiss bewegen, gemäß dem Grundsatz: von hinten nach vorn! Hat das Pferd einmal den Zusammenhang zwischen Druckerhöhung, Abstoßen am Gebiss (eine Mini-Ja-Bewegung in Genick) und sofort nachlassendem Druck begriffen, wird es problemlos mit feinen Hilfen durchs Genick zu reiten sein. Zieht der Reiter dagegen am Zügel, verpasst den Moment des Nachgebens, riegelt womöglich den Kopf runter oder zieht ihn mittels Schlaufzügeln abwärts, kann das Pferd diesen wichtigen Zusammenhang nicht begreifen. Schnell gelten solche Pferde als stur, unrittig und zäh – dabei hatten sie einfach nur unfähige reiterliche Lehrer.

Lebenslanger Prozess

Überhaupt ist es wichtig, dass Pferde immer gute Lehrer/Ausbilder haben. Immerhin ist Lernen nicht nur für Reiter ein lebenslanger Prozess, sondern auch für Pferde. Jede Reiterhilfe, jede Einwirkung hat Auswirkungen aufs Pferd und sein Verhalten unter dem Reiter. Unter guten und erfahrenen Reitern wird ein Pferd sein Leben lang Erlerntes abrufen können, unter unerfahrenen Reitern nur bedingt. Hier kann es sogar sein, dass mit der Zeit neue, aus Trainingssicht falsche Dinge gelernt werden. Ein Pferd ist nun mal kein Auto, das, einmal getuned, immer auf einem athletischen und körperlichen Top-Level bleiben kann.

Bodenarbeit eignet sich prima, um die Grundlagen der „operanten Konditionierung” zu etablieren und das Pferd mit positiver und negativer Verstärkung vertraut zu machen.
Foto: Stefan Lafrentz/FN-Archiv

Fehlerhafte reiterliche Einwirkungen erschweren dem Pferd das Verstehen, verwässern die Ausführung und können über kurz oder lang zu Abbau von Muskulatur und Leistungsabfall führen. Deshalb der Tipp an alle Reiter: Sich immer selbst weiterbilden, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis, verstehen warum ein Pferd manchmal so und nicht anders reagiert, sich mit dem Sinn der Lektionen auseinandersetzen und verstehen, wann, was, wie und warum man einzelne Übungen reitet. Und – ganz wichtig – bei Problemen im Sattel sich und sein Tun immer erst einmal selbstkritisch hinterfragen.

Dr. Britta Schöffmann

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