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Persönlichkeiten der Pferdeszene: Olaf Petersen

Balanceakt Reiten

Die Sache mit dem Gleichgewicht

Alle Trainer reden von Balance, vom ausbalancierten Sitz, vom ausbalancierten Pferd – von Pferd und Reiter im gemeinsamen Gleichgewicht. Was aber heißt das eigentlich? Wieso soll das Ganze von hinten nach vorn erreicht werden? Und was hat es mit dem Bestreben zu tun, ein Pferd an die Hilfen zu stellen? Fragen über Fragen, denen Buch-Autorin und Dressurausbilderin Dr. Britta Schöffmann auf den Grund geht.

Die Hinterhand ist die Kraftzentrale des Pferdes, ihre Bewegungsenergie überträgt sich über den Pferderücken bis ins Genick. Foto: Arnd Bronkhorst

Es könnte ja so einfach sein: Draufsetzen und losreiten, und alles ist gut. Doch das genau ist es nicht, weder einfach noch gut. Wer ein Pferd reiten möchte, ganz gleich ob gemütlich im Gelände oder fordernd im Sport, der muss es zunächst in die Lage versetzen, diese Leistung überhaupt erbringen zu können.

Leistung wird eben nicht nur im Dressurviereck oder im Parcours verlangt, sondern bereits in dem Augenblick, in dem der Mensch auf dem Pferdrücken Platz nimmt. Das zusätzliche Gewicht muss vom Pferd nicht nur getragen werden, es bringt das Pferd auch aus seinem natürlichen Gleichgewicht. Für den Reiter heißt das, er muss sein Pferd darin unterstützen, dieses Gleichgewicht wiederzufinden und mit der Zeit die notwendige Kraft aufzubauen. Beides hängt eng miteinander zusammen, wobei die Erreichung des Gleichgewichts, der Balance, die Basis ist. Beide Begriffe werden oft synonym verwendet, was nicht ganz korrekt ist.

Gleichgewicht ist nämlich ausschließlich ein Zustand, für den es sprachlich deshalb auch nur ein Substantiv gibt, kein Verb. Man kann sich nicht „gleichgewichten“. Man kann aber balancieren, sich ausbalancieren, um Balance zu erreichen und somit im Gleichgewicht zu sein. Und je ausbalancierter ein Körper, desto mehr befindet er sich im Gleichgewicht, also dem Zustand, bei dem sich die auf diesen Körper entgegengesetzt wirkenden Kräfte gegeneinander aufheben.

Pferd und Reiter im dynamischen Gleichgewicht. Foto: Christiane Slawik

Die Haltung macht‘s

Klingt kompliziert, ist es aber nicht wirklich. Ein kleiner Selbstversuch verdeutlicht das recht schnell: Einfach einmal aufrecht stehen oder gehen und dabei in sich hineinhorchen. Braucht diese Aktion viel Körperkraft oder ist es ein Balanceakt? Nein, denn der Körper befindet sich im Gleichgewicht. Nun einmal den Oberkörper nach vorn, zurück oder zur Seite pendeln lassen, im Stand und im Gehen. Gemerkt? Schon gerät man aus dem Gleichgewicht, müssen andere Muskelgruppen plötzlich zusätzliche Haltearbeit leisten, um ein Umkippen zu verhindern. Dass eine derartige Haltung auf Dauer ermüdend ist, versteht sich von selbst. Deshalb würde man in solchen Situationen auch sofort versuchen, sich durch eine entsprechende Gegenbewegung wieder auszubalancieren.

in der Dehnungshaltung bleibt das Gewicht des Pferdes auf einer waagerechten Linie und lediglich der Hals fällt vom Widerrist aus abwärts, ohne dass das Gleichgewicht verloren geht. Foto: Stefan Lafrentz

Voraussetzung für die Unterstützung des Pferdes auf der Suche nach Gleichgewicht ist immer auch ein ausbalancierter Reitersitz. Jegliche Fehler in Sitz und Einwirkung können das Gleichgewicht eines Pferdes – und in der Folge dann auch oft das des Reiters – stören. Typische Situation: das Durchparieren aus dem Galopp in den Trab. Stimmt hier das Timing der Hilfen nicht, kann es zu einer plötzlichen Stockung im Bewegungsablauf kommen, die wiederum den Reiter aus dem Gleichgewicht bringt – und damit auch erneut das Pferd. Das Erreichen eines gemeinsamen Gleichgewichts ist deshalb wichtig, damit das Pferd nicht andauernd anstrengend kompensieren muss und man Fehlbelastungen und Überanstrengungen riskiert.

Balancierstange

Beim Pferd, dessen eher rechteckiger Körper relativ sicher über seinen vier Beinen ruht, geschieht das Ausbalancieren in erster Linie über seine Längsachse. Jeder Reiter hat im Reitunterricht vermutlich schon mal den Satz gehört: „Der Hals des Pferdes ist seine Balancierstange.“ Bei einem Pferd ohne Reiter stimmt das auch (vor allem auch in Wendungen), bei einem Pferd mit Reiter ist aber letztlich sogar die gesamte Oberlinie die Balancierstange, in deren Mitte etwa sich das (zusätzliche) Reitergewicht befindet. Je nach Gebäude des Pferdes kann die eine Seite dieser Balancierstange hinter dem Reiter etwas länger sein (bei Pferden mit sehr langem Rücken), bei anderen vor dem Reiter (kurze Pferde mit eher langem Hals).

Das Bestreben des Reiters sollte aber immer sein, sich genau in der Mitte dieser Balancierstange zu befinden, beziehungsweise den vorderen und den hinteren Teil dieser imaginären Balancierstange
in etwa gleich lang zu halten. Warum? Auch hier verdeutlicht ein kleiner Selbstversuch recht eindeutig, wie einzelne Kräfte wirken: Einfach einmal auf einer oder sogar zwei der Länge nach hintereinander gelegten Hindernisstangen entlang gehen, ohne herunterzufallen. Was passiert? Automatisch wird man seine Arme ausbreiten und sie, beim Versuch sich auszubalancieren, abwechselnd mal ein wenig anheben, mal senken. 

Cavaletti- und Stangenarbeit fördert Kraft, Koordination und Gleichgewicht vom Pferd. Foto: Stefan Lafrentz/ FN-Archiv

Die gleiche Aktion dann nochmal wiederholen, diesmal mit einem Arm an den Körper fixiert, den anderen ausgestreckt. Die meisten werden spätestens jetzt ihr Gleichgewicht verlieren und von der Stange kippen. Erst wer absolut ausbalanciert ist, wird den Balanceakt auf der Stange auch ohne Balancierhilfe (ausgestreckte Arme oder Balancierstange) schaffen.

Kraftzentrum Hinterhand

Übertragen aufs Pferd unterm Reiter wird so vielleicht verständlich, dass ein einseitiges Verkürzen der „Balancierstange Oberlinie“ die Chance des Pferdes, sich auszubalancieren, stört und unnötige und verschleißende Kompensierungsarbeit verursachen würde. Wer also sein Pferd über reiterliche Einwirkung in einem kürzeren und damit stabileren Rahmen reiten möchte, sollte sich deshalb bemühen, immer sowohl den Teil vor, als auch den Teil hinter sich gleichmäßig zu verkürzen. Dabei müsste nun auch klar sein, dass diese Verkürzung der Oberlinie nicht im Hauruck-Verfahren funktionieren kann. Handorientiert wie Menschen sind, neigen manche Reiter allerdings dazu, den Rahmen des Pferdes von vorn mit den Zügeln oder gar entsprechenden Hilfszügeln erzwingen zu wollen. 

Wenn sich das Pferd auf den Zügel stützt und auf die Vorhand kommt, ist das ein untrügliches Zeichen mangelnden Gleichgewichts. Hier hat auch die Reiterin ihr Gleichgewicht noch nicht gefunden, verkrampft sich im Sitz und zieht die Beine hoch. Foto: Stefan Lafrentz

Das jedoch kann nicht funktionieren, zumindest nicht, wenn die natürliche Bewegungsqualität des Pferdes erhalten und verbessert werden soll. Denn hier gilt der alte Lehrsatz: „Der Motor des Pferdes sitzt hinten!“ Soll heißen: Die Kraftentwicklung ins schiebende Vorwärts und später auch ins tragende Aufwärts hat ihren Ursprung in der Hinterhand mit ihren großen Muskelpartien und gewinkelt zueinander angeordneten großen Gelenken. Hier ist die Kraftzentrale des Pferdes, dessen Bewegungsenergie sich über das Bewegungszentrum Pferderücken bis ins Genick überträgt. Deshalb gilt auch der Grundsatz: Von hinten nach vorn ins Gleichgewicht!

Stabil in der Oberlinie

Diese Kraftübertragung gelingt am effektivsten, wenn der Reiter es schafft, sein Pferd an den Zügel zu stellen und durchs Genick zu reiten. Und auch das hat etwas mit der Oberlinie zu tun. Nur wenn ein Pferd an den Hilfen und somit am Zügel steht, ist der Rumpf des Pferdes stabil und kann das Gewicht des Reiters tragen. Geht das Pferd dagegen (noch) nicht am Zügel, hebt sich gar nach oben heraus oder wird dauerhaft in absoluter Aufrichtung geritten, hängen seine Oberlinie und meist auch sein Bauch mehr oder weniger stark nach unten durch. Dabei kippt auch die Lende ein wenig nach unten, wodurch das Becken nach vorn kippt. Dies verhindert, dass die Hinterbeine korrekt unter den Schwerpunkt fußen können. Das Pferd arbeitet „nach hinten heraus“. 

Nun könnte das Argument aufflackern, ein Galopprennpferd steht ja auch nicht „am Zügel“ und sackt trotzdem nicht in der Oberlinie nach unten. Stimmt, aber der Jockey sitzt mit seinem Gewicht (unter 55 kg) auch nicht auf, sondern meist weit über dem Rücken. Darüber hinaus ist im Galopp und hier vor allem im Renngalopp während der freien Schwebe und vor allem durch das extrem weite Vorgreifen der Hinterbeine die Arbeit der Bauchmuskulatur des Pferdes sehr intensiv. Je kräftiger sich dabei Rücken- und Bauchmuskulatur gleichmäßig entwickeln, desto stabiler der Rumpf – beim Menschen spricht man auch vom Muskelkorsett. Galopper haben meist auch ein wahres Sixpack, von dem so mancher menschliche Sportler nur träumen kann.

Da der Jockey beim Rennreiten mit seinem Gewicht weit über dem Pferderücken „sitzt“, funktionieren Balance und Gleichgewicht hier anders und ohne, dass das Pferd am Zügel durchs Genick geht. Foto: Jim Clark/galoppfoto.de

Ausbildungsskala hilft

Am Zügel von hinten nach vorn durchs Genick ist folglich zugleich Forderung, Weg und Ziel der Ausbildung eines (nicht rennsportlichen) Reitpferdes. Auf diesem Weg können sich natürlich viele Probleme ergeben oder Fehler einschleichen. Die Skala der Ausbildung gibt hier die beste Hilfestellung. Zwar wird hier nicht explizit der Punkt „Gleichgewicht“ definiert, doch ist das Erreichen des Gleichgewichts abhängig von allen in der Skala aufgeführten Punkten. Ein Pferd, das nicht im Takt ist, ist auch nicht im Gleichgewicht. Umgekehrt wird ein Pferd, das noch nicht richtig ausbalanciert ist, auch nicht immer den richtigen Takt finden bzw. Taktfehler machen. Takt und Gleichgewicht sind eng miteinander verbunden, ebenso wie Anlehnung und Gleichgewicht. Stimmt die Anlehnung nicht, schreitet, tritt oder springt das Pferd nicht oder noch nicht von hinten nach vorn sicher an die Reiterhand heran, dann kann dies sowohl Zeichen von Gleichgewichtsproblemen sein, als auch das Finden des Gleichgewichts erschweren. Fehler bei der Anlehnung sollte man als Reiter deshalb immer sehr ernst nehmen.

Bei Sitzschulungen an der Longe lassen sich Koordination und Gleichgewicht trainieren. Foto: Thoms Lehmann/ FN-Archiv

Beim Reiten von Wendungen ist die Oberlinie als Balancierstange des Pferdes besonders gefordert. Foto: Christiane Slawik

Zügel-Irrtümer

Zu den Fehlern gehören, neben dem zuvor erwähnten „über dem Zügel“ oder „Herausheben“, auch „auf dem Zügel“ oder „hinter dem Zügel“. Gerade die Neigung mancher Pferde, sich auf den Zügel zu stützen, ist ein untrügliches Zeichen mangelnden Gleichgewichts. Solche Pferde suchen sich im Gebiss bzw. in der Reiterhand eine Stütze und geraten dabei vermehrt auf die Vorhand und immer mehr ins Ungleichgewicht. Sie bewegen sich also nicht mehr ausbalanciert in der Waagerechten, sondern scheinen abwärts in den Boden hineinzulaufen. Selbst in der Dehnungshaltung, landläufig häufig auch als Vorwärts-Abwärts bezeichnet, bleibt das Gewicht des Pferdes auf einer waagerechten Ebene, lediglich sein Hals fällt vom Widerrist aus abwärts, ohne dass das Gleichgewicht jedoch verloren geht.

Stützt sich ein Pferd nun auf den Zügel, machen viele Reiter den Fehler, mit aller Kraft festzuhalten – vermutlich aus der Sorge heraus, das Pferd könne sich bei einem Nachgeben herausheben oder lang machen. Ja, das kann passieren, wäre aber zunächst einmal nicht weiter schlimm. Denn nur aus einem Moment des Nachgebens heraus bekommt das Pferd überhaupt die Möglichkeit, sich wieder neu auszubalancieren anstatt sich zu stützen. Vor diesem Nachgeben sollte der Reiter allerdings über eine halbe Parade versuchen, die Hinterhand des Pferdes zunächst ein wenig vermehrt Richtung Schwerpunkt heranzutreiben. Stützen ist nämlich immer auch ein Zeichen dafür, dass die Hinterbeine eben nicht mehr fleißig und aktiv genug ins Vorwärts arbeiten.

Jegliche Fehler in Sitz und Einwirkung können das Gleichgewicht von Pferd und Reiter stören. Foto: Jacques Toffi

 Im Gleichgewicht sitzt der Reiter immer genau über dem Körperschwerpunkt des Pferdes. Foto: Stefan Lafrentz

Von hinten nach vorn

Überhaupt kommen fast alle Anlehnungsschwierigkeiten – Ausnahmen sind medizinische Probleme oder unpassende Ausrüstung – nicht von vorn, sondern von hinten. Entwickelt der Motor des Pferdes, also seine Hinterhand, nicht die für die gestellte Aufgabe notwendige Energie, kann die Anlehnung vorn nicht gut oder gar perfekt werden. Dasselbe gilt übrigens auch beim Verkriechen hinter dem Zügel. Sowohl auf als auch hinter dem Zügel – ob ungewollt oder fehlerhaft absichtlich eng gemacht – geht niemals mit Gleichgewicht einher. Wir erinnern uns an das Bild „Oberlinie gleich Balancierstange“. Stützt sich das Pferd, ist die vordere Seite dieser Balancierstange zu lang bzw. es herrscht eine falsche Gewichtsverteilung zu dieser Seite hin. Ist das Pferd zu eng, ist diese Seite der Balancierstange zu kurz und die hintere zu lang. „Repariert“, wenn man diesen Begriff nehmen möchte, werden Anlehnungsschwächen deshalb nicht vorn mit der Hand, sondern immer über treibende Hilfen. Auch hier gilt das Prinzip: von hinten nach vorn!

Dr. Britta Schöffmann

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