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Persönlichkeiten der Pferdeszene: Jan Künster
Anreiten
Immer langsam mit den jungen Pferden
Für Züchter, Aufzüchter und Profis ist es tägliches Geschäft, aber auch immer mehr freizeitreitende Amateure träumen davon, es selbst zu übernehmen: das Anreiten und Ausbilden eines jungen Pferdes. Doch so einfach, wie es manche Bücher oder Internet-Ratgeber glauben machen, ist das nicht. Dressur-Expertin Dr. Britta Schöffmann klärt auf.
Anspruchsvolle Aufgabe: Das Ausbilden eines jungen Pferdes erfordert einen erfahrenen, mental sicheren und sattelfesten Reiter. Foto: Holger Schupp/FN-Archiv
„Zehn Tipps zum Einreiten deines jungen Pferdes“, „Pferde einreiten leicht gemacht“, „Mit Empathie zum artgerechten Anreiten“ oder „Schrittfür- Schritt-Anleitung zur Pferdeausbildung“ – Slogans wie diese lassen den Eindruck entstehen, dass das Anreiten sowie die Grundausbildung eines Pferdes für jeden Reiter machbar sind, Hauptsache er hat ausreichend Geduld, eine gute Bindung und ganz viel Liebe zu seinem Vierbeiner. Er klingt aber auch zu gut, der Traum vom eigenen Fohlen, dem man als Pferdefreund selbst auf die Welt hilft oder es notfalls im Fohlenalter erwirbt, ihm beim Aufwachsen zuschaut und dann irgendwann der erste Mensch ist, der es reitet und natürlich dann auch ausbildet. Wie gesagt – ein Traum. Einer, der gut gehen kann, aber auch einer, der recht häufig zum Albtraum wird. Denn nicht selten sind unerfahrene Reiter mit dieser großen und anspruchsvollen Aufgabe überfordert.
Für immer geprägt
Denn anspruchsvoll ist diese wichtige Phase im Leben eines Pferdes auf jeden Fall. Zu dieser Zeit macht es seine ersten intensiveren Erfahrungen mit dem Menschen, sowohl im allgemeinen Umgang als dann auch unter dem Sattel. Alle Fehler, die hier gemacht werden – egal ob unabsichtlich, ob aus mangelndem Können/Wissen oder aus Zeitmangel oder Grobheit – können lebenslange Auswirkungen auf das jeweilige Pferd haben. Gut gemeint ist eben nicht immer gut gemacht. Allein schon aus diesem Grund ist es sinnvoll, dass sich nur erfahrene, mental sichere und letztlich auch sattelfeste Pferdemenschen dieser Aufgabe stellen. Denn nicht jedes junge Pferd ist gleich. Wie und wie schnell oder langsam der Mensch vorgeht, hängt vom jeweiligen Pferd ab, von seinem Temperament, seinem Charakter, seinem Körperbau und seinem Entwicklungsstand. Wo der eine Dreijährige schon recht weit entwickelt ist, kann der andere Dreijährige noch schlaksig und instabil sein. Bei dem einen ist Wegspringen an der Hand oder unter dem Reiter Unsicherheit oder Ängstlichkeit, bei dem anderen Übermut oder Überlegenheit. Diese Unterschiede zu erkennen und individuell darauf einzugehen, erfordert Erfahrung, die der gutmeinende Besitzer eines ersten eigenen Fohlens oder ersten eigenen Youngsters nicht haben kann. Pferdeliebe allein reicht nämlich meist nicht aus, Wissen und Können sind hier mindestens ebenso wichtig.
Das Pferd lesen
Zu diesem Wissen gehört auch das Wissen um die Natur eines Pferdes. Wie tickt es? Warum verhält es sich in manchen Situationen so und nicht anders? Welche Bedürfnisse hat es? Wie lernt es? Wie ‚lese‘ ich als Mensch sein Verhalten? Wie agiere und reagiere ich im Umgang mit ihm?
Auch wenn die meisten Pferdefreunde gern mit ihren Pferden kuscheln, Pferde sind mit ihren rund 600 Kilogramm Körpermasse keine Kuscheltiere. Sie brauche Vertrauen genauso wie Führung und finden darin als Herden- und Fluchttiere letztlich auch ihre Sicherheit und Zufriedenheit. Deshalb geht auch die Ausbildung eines Jungpferdes schon mit seiner Geburt los. Durch Gewöhnung an Berührungen durch den Menschen, Gewöhnung an ein Halfter, an Führen am Strick, an gebürstet werden und Hufe geben, werden bereits die Grundlagen für ein späteres stressfreies Anreiten gelegt
Erfahrung und Fingerspitzengefühl gefragt: Das erste Auflegen des Sattels erfolgt behutsam, der Sattelgurt wird leicht angezogen, sodass der Sattel nicht rutscht. Foto: Thoms Lehmann/FN-Archiv
Der richtige Moment
Der Zeitpunkt zum Anreiten variiert je nach Entwicklungsstand des Pferdes, liegt im Allgemeinen aber im vierten Lebensjahr. Allerdings sollte ‚Anreiten‘ nicht mit ‚Reiten‘ verwechselt werden. Streng genommen geht es hier zunächst um die Gewöhnung an Trense und Sattel. Später kommt das Reitergewicht und die ersten einfachen ‚Bedienungen‘ durch den Reiter, wie Gangart und Richtung, hinzu. Verantwortungsvolle und geduldige Pferdebesitzer geben dem Pferd dabei die Zeit, die es braucht. Vor allem junge Pferde, die offenkundig noch stark im Wachstum sind, werden deshalb nach den ersten Longen- und Reiteinheiten über den Sommer noch einmal auf die Wiese gelassen und nicht geritten. Zeit und Geduld sind sowieso Zauberwörter beim Start ins Leben als Reitpferd. Man schmeißt dem Youngster eben nicht einfach einen Sattel auf den Rücken, um dann flugs aufzusteigen und eine Buckeleskapade zu riskieren. Auch wenn Westernfilme dies gern so darstellen und die Methode dort als ‚to break a horse‘ (ein Pferd brechen) bezeichnet wird – heutzutage läuft das anders. Hat das junge Pferd in seinen Kindertagen alles Notwendige des Umgangs mit dem Menschen gelernt, wird es zunächst an Trense und Trensengebiss gewöhnt.
Ein Schritt nach dem anderen
Vorsichtig wird das Pferd nun Schritt für Schritt an den Sattel gewöhnt. Am besten bereitet man dies zunächst mit dem Anlegen eines Longiergurtes vor. Der Gurt wird dem Pferd auf den Rücken gelegt (festhalten, damit er nicht runterrutscht und das Pferd verunsichert) und je nach Reaktion des Pferdes anschließend geschlossen und leicht angezogen. Auch hier ist Erfahrung gefragt, denn ist der Gurt zu lose, könnte er nach hinten rutschen und Panik auslösen. Ist er zu fest, kann das Pferd ebenfalls panisch reagieren, sich dabei im Rumpf verkrampfen und bocken oder im schlimmsten Fall sogar stürzen. Derartig negative Erfahrungen führen schnell zu langfristigen oder dauerhaftem Sattelzwang. Gleiches gilt auch für das erste Auflegen und Angurten des Sattels, das ebenfalls in Ruhe und Geduld erledigt werden sollte.
Den Grundstein legen
Zeitgleich zu diesen Desensibilisierungsmaßnahmen beginnt auch das Anlongieren des jungen Pferdes, zunächst am besten am Kappzaum oder zumindest mit einem gutsitzenden Stallhalfter über der Trense.
Über der Trense sollte das junge Pferd beim Longieren ein gut sitzendes Stallhalfter tragen, außerdem sollte die Longe in das Halfter, nie aber in den Gebissring, eingehakt werden. Foto: Holger Schupp/FN-Archiv
Auf keinen Fall sollte die Longe in den Gebissring eingehakt werden. Auch hier sind einige wichtige Regeln zu beachten, damit es nicht zu dauerhaften Problemen beim Longieren kommt. Ein eingezäunter Longierzirkel ist wichtig, denn er gibt dem Pferd äußere Begrenzung und damit Führung und verhindert zu viel Druck am inneren Trensenring und damit im Maul des jungen Pferdes. Aber auch Körperhaltung, Körperposition und ruhig-bestimmte Ausstrahlung des Longenführers sind wichtig, um dem Pferd beizubringen, sich im Kreis um den Menschen in Ruhe vorwärts zu bewegen und auf dessen Hilfen zu reagieren.
Ein wildes Herumscheuchen ist auf jeden Fall abzulehnen, denn dadurch entsteht allenfalls Angst und Unsicherheit, aber sicherlich kein losgelassenes Bewegen auf dem Zirkel. Außerdem belasten die dabei entstehenden Fliehkräfte Sehnen, Bänder und Gelenke stark. Es geht nicht darum, das Pferd müde zu machen oder ‚abzulongieren‘, sondern um eine erste Gewöhnung an Hilfen und das Finden des natürlichen Gleichgewichts unter völlig neuen Umständen. Hier baut das Pferd Vertrauen zum Menschen und zur Einwirkung auf – auf vieles, was das Pferd jetzt lernt, lässt sich nachher unter dem Sattel problemlos aufbauen.
Monotonie vermeiden
Manche Pferde haben bereits nach kurzer Zeit das Prinzip des Longierens verstanden, andere brauchen ein wenig länger. Klappen die ersten Einheiten an der Longe – 10 bis 20 Minuten sind hier absolut ausreichend – werden Trense und Longiergurt angelegt, später dann der Sattel. Erst wenn das junge Pferd sich entspannt und ausbalanciert auf beiden Händen um den Longenführer herum bewegt wird es ausgebunden. Dies aber nicht, um ihm den Kopf runterzuzwingen, sondern um ihm den Kontakt zum Gebiss, das Herandehnen ans und das Abstoßen vom Gebiss nahe zu bringen. Takt und Losgelassenheit stehen hier, wie beim Reiten, an vorderster Stelle, erste Schritte Richtung Anlehnung fließen mit ein. Wie häufig dieses erste Longieren gemacht wird, hängt wieder einmal vom Pferd ab. Bei dem einen reichen ein paar Einheiten, das andere benötigt ein paar Wochen. Auch sollte schon in dieser frühen Phase Monotonie vermieden werden: Jeden Tag longieren, überfordert das junge Pferd sowohl körperlich als auch mental. Besser ist auch hier ein vielseitiger Ansatz, eine individuelle Kombination aus Arbeit an der Longe, Bodenarbeit, Freispringen und freier Bewegung auf der Weide oder dem Paddock.
Ab jetzt mit Gepäck
Irgendwann kommt der Tag, an dem zum ersten Mal ein Reiter im Sattel Platz nimmt. Wie schon in der Zeit zuvor, ist ein Helfer vom Boden sinnvoll. Er hält das junge Pferd, das zuvor an der Longe zu Losgelassenheit finden konnte, fest, während der Reiter sich ein wenig über den Sattel lehnt, in den Bügel tritt und sein Gewicht mal mehr, mal weniger darin abstützt – und schließlich aufsitzt (oder hochheben lässt) und vorsichtig in den Sattel gleitet.
Meistens passiert in diesem Moment – nichts. Viele Pferde haben erst einmal ein großes Fragezeichen im Gesicht und reagieren eher verdutzt. Da sie das Longieren schon kennen, hilft es, wenn der Helfer das Pferd nun zunächst anführt und dann, wenn es sich mit dem ungewohnten Gewicht auf seinem Rücken arrangiert hat, in den Longierzirkel entlässt. Je nach Pferdetyp reichen am ersten Tag ein paar Runden im Schritt unter dem Reiter, unter Umständen kann bereits kurz angetrabt werden. Klappt dies, stünde der nächste Schritt auf dem Programm, der Wechsel auf einen (umzäunten) Reitplatz beziehungsweise in eine Reithalle.
Longieren ohne Reiter ist dem Pferd bereits vertraut, sodass der Helfer es nach dem Anführen im Schritt in einen Longierzirkel entlässt. Foto: Christiane Slawik
Die manchmal praktizierte Unsitte des ersten Aufsitzens in der Pferdebox oder auf der Stallgasse ist ein absolutes No Go. Zu groß sind die Verletzungsrisiken für Mensch und Tier im Falle eines doch mal hektisch oder panisch reagierenden Pferdes auf kleiner Fläche und asphaltiertem Boden.
Alleine geradeaus
Es ist von Vorteil, wenn das Pferd den Außenplatz oder die Reithalle bereits kennt und man ihm optimalerweise noch ein erfahrenes und entspanntes Führpferd an die Seite stellt. Noch beginnt man an der Longe, der Longenführer bewegt sich dabei nach und nach aus dem Zirkel heraus und geht gemeinsam mit dem Pferd auf die geraden Linien, bis er schließlich die Longe löst und das Reitpferd seine ersten Runden unter dem Reiter meistert.
Der ist ab diesem Zeitpunkt am besten ausgerüstet mit einer kurzen Gerte, die er zur Unterstützung der Lenkung und auch des treibenden Schenkels einsetzt. Nicht vergessen: Die Bedeutung von Reiterhilfen muss ein Pferd erst einmal lernen, am Anfang sind sie für ein Pferd wie eine fremde Sprache. Und auch mit dem ungewohnten Gewicht auf seinem Rücken muss es sich erst einmal neu ausbalancieren.
Ein freier Ritt auf dem Reitplatz oder in der Reithalle stellt den nächsten Meilenstein in der Jungpferdeausbildung dar. Foto: Stefan Lafrentz
Erfahrung im Sattel
War die Grundlagenarbeit vom Boden aus erfolgreich, gestalten sich diese wichtigen Schritte meist ohne große Probleme. Allerdings gibt es Ausnahmen: Pferde, die extrem reagieren und alles daransetzen, das ungewohnte Gewicht des Reiters so schnell wie möglich loszuwerden. Ursache hierfür ist nicht, wie oft behauptet wird, ein schlechter Charakter des Pferdes oder gar die Abstammung – obwohl es natürlich einfach wäre, dem Pferd die Schuld in die Schuhe zu schieben. Vielmehr gründen Probleme beim Anreiten in fehlendem Vertrauen zum Menschen, häufig entstanden durch falsches, zu rüdes oder übereiltes Vorgehen. Trotzdem ist es wichtig, dass das Anreiten von einem erfahrenen, nicht zu schweren, gut ausbalancierten und sattelfesten Reiter übernommen wird. Dieser sitzt im Zweifelsfall eine unerwartete Reaktion des Pferdes gelassen aus und bleibt im Gleichgewicht. Ein unerfahrener Reiter überträgt in kritischen Situationen eher Stress und mögliche Angst aufs Pferd, das kann aufkeimende Probleme noch verstärken.
Wachstum braucht Zeit
Mit dem Anreiten des jungen Pferdes endet die Kindergarten- und Grundschulzeit (Gewöhnungsphase), nun folgt ‚der Ernst des Lebens‘, sprich seine weitere Ausbildung zum Reitpferd (Grundausbildung). Das heißt aber nicht, dass sie dann bereits körperlich ausgereift sind: Es dauert Jahre, bis das Pferde-Skelett ausgewachsen ist. Die Wachstumsfugen (Epiphysenfugen), also die Bereiche, die ein Längenwachstum der Knochen erst möglich machen, verknöchern nur nach und nach, die letzten im Bereich des Kreuzbeins erst etwa ab dem fünften Lebensjahr.
Der alte Satz ‚Immer langsam mit den jungen Pferden‘ ist also nicht nur ein Spruch, er hat vielmehr einen wissenschaftlich fundierten Hintergrund. Nicht umsonst spricht man in der klassischen Reitlehre von jungen Remonten (das erste und teils auch zweite Ausbildungsjahr mit Gewöhnung an Longe, Reitergewicht, Gangarten- und Richtungswechsel) und alten Remonten (etwa das dritte Ausbildungsjahr) und lässt den Pferden Zeit für ihre Grundausbildung. Zeit ist wie zuvor auch in dieser Phase der Ausbildung von großer Bedeutung. Die Reiterei sollte den Menschen lehren, nicht in Wochen oder Monaten, sondern in Jahren zu denken.
Alles braucht seine Zeit: Die Wachstumsfugen verknöchern nach und nach, im Bereich des Kreuzbeins erst etwa ab dem fünften Lebensjahr. Foto: Stefan Lafrentz
Zeit als Erfolgsrezept
Leider geben heute viele ihren Pferden diese Zeit nicht mehr. Züchter können ihre Youngster nun mal besser verkaufen, wenn sie bereits angeritten sind. Zeit kostet hier Geld. Und junge Pferde erzielen höhere Preise, wenn sie sich auf Auktionen die Ohren abstrampeln oder schon Turnierfolge nachweisen können. Kein Wunder also, dass dann schon die Dreijährigen kräftig rangenommen und gepusht werden. Die Nachfrage bestimmt das Angebot und damit häufig den Ausbildungsplan. Nachhaltiger im Sinne junger Pferde wäre es jedoch, sich bei der Ausbildung die notwendige Zeit zu nehmen und sich dabei vom Pferd und seinen Bedürfnissen leiten zu lassen. Das heißt aber nicht – wie manche besonders vorsichtige Reiter glauben – dass Dreijährige und vielleicht sogar Vierjährige überhaupt nicht geritten werden dürfen. Auch bei Pferden gibt es, so wie bei Menschen, ein sogenanntes ‚goldenes Lernalter‘, in dem Neues einfacher und unkomplizierter gelernt wird und sich auch die Verbesserung von Beweglichkeit und Muskelkraft entwickelt. Es macht also keinen Sinn, ein Pferd erst jahrelang auf der Wiese laufen zu lassen, um es dann erst mit fünf, sechs oder sieben Jahren anzureiten.
Die Mischung macht´s
Die Betonung liegt hier allerdings auf dem Begriff Entwicklung. Vor allem Muskelkraft entwickelt sich am effektivsten mit der Reifung, mit dem Auswachsen des Körpers. Wenn Pferde Dreijährig optisch schon so wirken wie Sechsjährige, stimmt was in der Ausbildung nicht, liegt der Verdacht systematischer Überforderung nahe. Ein gerade angerittenes Pferd sollte eben nicht auf die Schnelle ‚fertig gemacht‘ werden.
In den ersten Monaten reichen zwei bis drei Trainingseinheiten pro Woche unter dem Sattel, die nicht länger als etwa 20 Minuten dauern sollten. Was für ältere und ausgebildete Pferde als Aufwärmphase gilt, ist für das junge Pferd bereits Arbeit. Für mehr fehlen Kraft und Ausdauer. Die übrige Zeit sollten Bodenarbeit, Longieren, Freispringen und reine Wiesentage auf dem Programm stehen.
Ein vielseitiger Ansatz bewährt sich bei der Jungpferdeausbildung: Freispringen bringt Abwechslung in den Trainingsalltag. Foto: Stefan Lafrentz
Ein Balanceakt
Das Ziel der ersten Zeit nach dem Anreiten ist es, dem Pferd dabei zu helfen, sein Gleichgewicht wiederzufinden.
Dabei gilt der alte Grundsatz: Bewegung steht vor Form. Pferde sind nun mal als Bewegungstiere auf die Welt gekommen und nicht als Dressur- oder Springtiere. Für den Reiter heißt das, sich zunächst darauf zu konzentrieren, die vortreibenden Hilfen zu etablieren, auf geraden und später dann auch auf großen gebogenen Linien zu reiten, zunächst im Schritt und im Trab, später auch – oder falls das Pferd es bereits von selbst anbietet – im Galopp. Die Kopf-Hals-Position ist dabei zweitrangig. Erst wenn sich das Pferd mit dem zusätzlichen Gewicht des Reiters taktsicher ausbalancieren kann, wenn es seine Muskulatur rhythmisch unterm Reiter an- und abspannt und sich körperlich und geistig entspannt, wird Anlehnung angestrebt. Und auch hier gilt ein alter Lehrsatz: Das Pferd sucht die Anlehnung, der Reiter gestattet sie. Anlehnung darf eben nicht durch Ziehen oder Fummeln künstlich geformt oder gar erzwungen werden.
Erst wenn sich das junge Pferd unter dem Reiter taktmäßig und losgelassen bewegt, wird die Anlehnung angestrebt. Dabei gilt: Das Pferd sucht die Anlehnung, der Reiter gestattet sie. Foto: Christiane Slawik
Ehrliche Selbsteinschätzung
Überhaupt sollte der Reiter bei der Ausbildung und bei der weiteren Arbeit mit dem Pferd, neben Tierliebe und Empathie, niemals die Prinzipien der klassischen Reitlehre aus dem Blick verlieren, sollte die Inhalte der Ausbildungsskala und vor allem auch ihre Bedeutung kennen und sich danach richten. Er muss spüren, wann sein Pferd in der Arbeit eine Pause braucht, wann Überforderung oder auch Unterforderung drohen. Er sollte seinem Pferd mit leichter Springgymnastik und Ausritten Abwechslung bieten und es vielseitig fördern. Auch das erfordert Erfahrung und Können. Wer sein Pferd wirklich liebt, muss sich deshalb immer wieder selbstkritisch hinterfragen: Weiß ich genug, um diese Aufgabe zu meistern? Kann ich genug, um sie umzusetzen? Nicht umsonst gibt es den Lehrsatz ‚Alte Pferde für junge Reiter, junge Pferde für alte Reiter‘. Bezogen auf den Reiter ist damit nicht das Lebensalter, sondern das Erfahrungsalter gemeint. Und Hand aufs Herz: Nirgendwo sonst kommt der eine Lernende auf die Idee, den anderen Lernenden ausbilden zu wollen. Überall gilt das Lehrer-Schüler- Prinzip, bei dem der Lehrer mehr kann und weiß als der Schüler und ihn deshalb fördern kann. Nur in der Reiterei scheint das manchmal offenbar vergessen zu werden. Wer Anreiten und Grundausbildung seines Youngsters also wirklich selbst in die Hand nehmen möchte, sollte sich auf jeden Fall von professioneller Seite helfen lassen. Oder aber diese wichtige Aufgabe gleich ganz in erfahrene Hände übertragen. Und wer Bedenken hat, dass ein ‚Fremder‘ es nicht so macht, wie man es sich vorstellt, setzt auf Kontrolle und ist bei jedem Ausbildungsschritt dabei. Ein seriöser Ausbilder wird nichts dagegen haben.
Dr. Britta Schöffmann
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