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Tokio 2020: Reitsport im Land der olympischen Spiele

„Daijoubu“, willkommen in Japan

Zu den Olympischen Reiterspielen reisen im Juli und August vermutlich Zuschauer aus der ganzen Welt nach Tokio, darunter auch deutsche Fans und eine Reisegruppe der Persönlichen Mitglieder. Doch wie sieht Pferdesport in Japan aus und worauf sollten die deutschen Pferdesport-Fans als Gäste in Tokio achten?

Yoshiaki Oiwa, hier mit Calle bei der WM 2018 in Tryon, lebt seit über zehn Jahren in Deutschland. Für sein Heimatland Japan hat er schon an vielen Championaten teilgenommen, jetzt hat er die Olympischen Spiele in Tokio fest im Blick. Foto: Stefan Lafrentz

Yoshiaki Oiwa antwortet nicht sofort, denkt nach und schmunzelt: „Wenn ich ganz ehrlich bin, mache ich mir um die japanischen Zuschauer mehr Sorgen. Die meisten haben noch nie beim Pferdesport zugesehen. Sie wissen nicht, wann sie klatschen dürfen. Oder wann sie ruhig bleiben müssen. Ich hoffe, die japanischen Zuschauer werden bei den Reiterspielen viel von den deutschen Fans lernen.“ Diese Antwort des dreimaligen Olympiateilnehmers in der Vielseitigkeit zeigt klar, welche Rolle der Pferdesport in Japan spielt. Fast erschreckend ist die Aussage von Azusa Kitano, die beim japanischen Pferdesportverband für die Betreuung der Medien zuständig ist: „Ich weiß nicht, wie ich den Stellenwert des Pferdesports in Japan beschreiben soll. Pferdesport ist in Japan nicht weit verbreitet und nicht beliebt. Japaner haben mit Pferden nicht viel zu tun und wenn, dann ist der Rennsport viel beliebter als der Reitsport.“

Kleine Zahlen, große Hoffnung

Von den knapp 127 Millionen Menschen, die in Japan leben (Stand November 2019), sind 5.288 bei der japanischen FN als Reiter registriert. „Die Zahl der aktiven Reiter, die an Turnieren teilnehmen, ist aber niedriger“, ergänzt Kitano. „Diese Zahl schätzen wir auf weniger als 3.000.“ Die Zahl der registrierten Pferde ist ebenfalls gering: 3.937 waren es im Februar diesen Jahres. Angesichts dieser japanischen Minimal-Zahlen muss man vor den Erfolgen dieser „kaum reitenden Nation“ den Hut ziehen. Bei den vergangenen Weltreiterspielen in Tryon hat sich das Vielseitigkeitsteam mit „Yoshi“, so sein Spitzname, Oiwa den vierten Platz gesichert. Auf den „Eventern“ ruhen auch mit Blick auf die Olympischen Spiele 2020 große Hoffnungen: „Für unsere Vielseitigkeitsreiter ist eine Team-Medaille das Ziel“, betont Kitano. „Bei den Dressur- und Springteams peilen wir eine Rangierung unter den ersten Acht an.“ Oiwa nennt die Team-Medaille nicht einfach „ein Ziel“, für ihn wäre sie ein Traum. „Eine Medaille in Tokio, egal welche Farbe, wäre ein Traum“, und zurückhaltend fügt er hinzu. „Es ist nicht unmöglich!“ 

Christoph Koschel (Mitte), hier mit Mutter Gabriele und Vater Jürgen Koschel, ist seit 2019 Nationaltrainer der Japanischen Dressurreiter. Foto: Stefan Lafrentz

Oiwa ist 43 Jahre alt, lebt seit 2008 in Deutschland und trainiert im Stall von Vielseitigkeitsreiter Dirk Schrade. Eigentlich wollte Oiwa seine Pferdesport-Karriere nach den Olympischen Spielen 2012 beenden, aber dann gewann Tokio die Olympiabewerbung und Oiwa verlängerte. „Ich hatte das Gefühl, das ist meine Mission.“ Auf diese Mission arbeitet er zielstrebig hin und hat gute Chancen, auch 2020 wieder zum japanischen Olympia-Team der Vielseitigkeitsreiter zu gehören. Natürlich steht der Gedanke an eine Medaille im Mittelpunkt, aber für Yoshi Oiwa spielen noch zwei andere Gedanken eine wichtige Rolle. 

„Es gibt viele Leute in Japan, die mich seit vielen Jahren unterstützen. Aber sie haben noch nie meinen Sport erlebt. In Tokio habe ich das erste Mal die Chance, diesen Leuten meinen Sport live zu zeigen. Das ist für mich sehr wichtig.“ Und noch ein Gedanke liegt dem Pferdemann am Herzen. „Ich hoffe wirklich, dass die Menschen in Japan erkennen werden, was für ein toller Sport der Pferdesport ist. Dass sie realisieren, wie wichtig die Partnerschaft zwischen Pferd und Mensch ist.“ So wie Yoshi Oiwa machen es alle japanischen Olympiakandidaten, egal, ob Dressur-, Spring- oder Vielseitigkeitsreiter: „Es gibt keine guten Reiter, die in Japan trainieren“, bestätigt Oiwa. „Sie sind alle in Europa.“ Viele trainieren in Deutschland, einige auch beispielsweise in den Niederlanden. Einige leben fest in Europa, andere haben eigene Ställe in Japan, haben nur ihre Top-Sportpferde hier stationiert und kommen regelmäßig zum Training hergeflogen.

Pferdeerlebnis mal anders

Der deutsche ehemalige Championatsreiter Christoph Koschel trainiert seit sechs Jahren japanische Dressurreiter, seit 2019 ist er offizieller Nationaltrainer. Er hat in den vergangenen Jahren eine deutliche Veränderung bei den japanischen Reitern bemerkt: „Früher war der Altersdurchschnitt der japanischen Reiter deutlich höher. Nicht wenige waren um die 60 Jahre alt.“ Warum? „Weil die Japaner früher erst beruflich Karriere gemacht und sich danach ein Pferd gekauft und der Reiterei gewidmet haben. Heute beginnen sie viel früher damit.“

Der 43-Jährige Koschel war im Lauf der Zeit schon zehnmal in Japan und hat dort Lehrgänge gegeben. Seine Beobachtungen unterstreichen die Zahlen der japanischen Federation und die Gedanken von Oiwa. „Pferde sind von den Menschen in Japan sehr weit entfernt. Ich bin sicher: Von den zehn Millionen Menschen in Tokio und den knapp vier Millionen in Yokohama haben 95 Prozent noch nie ein Pferd live gesehen.“ Das verleiht den Pferden in Japan nicht nur einen exotischen Hauch, es bietet auch die Chance auf ein für uns in Deutschland etwas merkwürdig anrührendes Geschäftsmodell.

Olympische Reiterspiele inmitten der Mega-City Tokio: Die überwiegende Zahl der Einwohner hat noch nie ein Pferd live gesehen. Foto: pxhere.com

FN-Richtlinien in Japan

 Schon gewusst? Die FN-   Richtlinien für Reiten und   Fahren, Band1   „Grundausbildung für   Reiter und Pferd“ sind   2012 in die japanische   Sprache übersetzt       worden und werden   seither vom Dressage Stable Terui zusammen mit der japanischen FN vertrieben. Es gibt auch bereits eine vertragliche Vereinbarung für die Übersetzung der Richtlinien Band 2 „Ausbildung für Fortgeschrittene“.

Der Dressurreiter Kiichi Harada war bereits 2016 bei den Olympischen Spielen dabei. Zu Hause in Japan leitet er den Hiruzen Horse Park. Koschel war schon da und erzählt: „Das ist eine moderne Reitsportanlage etwa eineinhalb Stunden von der Stadt entfernt. Kiichi trainiert dort einige Pferde, aber dann gibt es auch noch zehn Pferde, die im Kreis geführt werden. Erwachsene und Kinder reisen die ganze Strecke aus der Stadt an, um hier für gutes Geld ein, zwei Runden geführt zu werden.“ Ein Stück daneben seien fünf weitere Pferde angebunden. Die Besucher können hier Möhren kaufen, um diese zu füttern. Und wieder andere bezahlen dafür, dass sie zum ersten Mal ein Pferd anfassen und putzen dürfen. Eine Profi-Reitanlage mit Streichelzoo-Charakter. 

In den Städten gibt es keine Reitschulen, die meisten liegen auf dem Land. Wie viele Reitschulen es tatsächlich gibt, ist unbekannt. Aber „650 Reitställe haben wir in Japan registriert“, weiß Kitano, „diese Zahl beinhaltet aber auch Privatställe.“ Reiten in Japan ist kein „Jedermann-Sport“. Eine Reitstunde von 45 Minuten kostet zwischen 5.000 und 7.000 japanischen Yen, also etwa zwischen 42 und 60 Euro.

Vornehm zurückhaltend

Es gab zu Beginn Momente, bei denen Koschel erst lernen musste, sie richtig einzuordnen. Inzwischen genießt er die Zusammenarbeit mit den Japanern. „Die Japaner sind sehr besonnen und diszipliniert und bringen anderen Menschen sehr viel Respekt entgegen“, erklärt der Dressurtrainer. „Die Zurückhaltung darf man zu Beginn nicht mit Arroganz verwechseln oder denken, dass sie Ablehnung widerspiegelt. Es dauert lange, aber dann kann die Beziehung zu Japanern auch sehr innig werden.“

Bei den Olympischen Spielen 2012 in London lag Yoshiaki Oiwa nach der Dressur in Führung, schied dann aber im Gelände aus. Acht Jahre später hofft er in Tokio auf eine Medaille. Foto: Arnd Bronkhorst

Denselben Respekt, mit dem sich Japaner Menschen gegenüber verhalten, bringen sie für die Pferde mit, betont Koschel. „Ich lege aber auch sehr viel Wert darauf, dass sie den Res pekt nicht nur beim Reiten zeigen, sondern auch im Umgang. Dass sie noch mehr Kontakt zu ihren Pferden suchen, sich auch vor und nach dem Reiten um sie kümmern und merken, wie wichtig das für eine echte Partnerschaft ist. Und das nehmen sie toll an.“ 2018 hat Koschel seinen bisher größten Erfolg mit den japanischen Dressurreitern gefeiert: den Team-Sieg bei den Asian Games. „Das war eine echte Sensation. Seit 1994 hatte immer Korea gewonnen und dann haben wir es geschafft.“ Das spornt an. Zur Vorbereitung auf Olympia ist Koschel in diesem Frühjahr für einige Wochen mit sieben japanischen Dressurreitern und 13 Pferden zum „Turnierzirkus“ nach Wellington, Florida, gereist. Und auch das hat sich schon gelohnt: „Wir haben inzwischen schon fünf Siege eingefahren“, erzählt Koschel und man hört den Stolz in seiner Stimme. „Noch nie zuvor hatte ein japanischer Dressurreiter eine internationale Grand-Prix-Prüfung außerhalb Japans gewonnen.“ 

Es gibt durchaus einige wenige internationale Turniere in Japan, aber „zu unseren Turnieren kommen keine internationalen Reiter, keine Reiter von Übersee“, bestätigt Azusa Kitano. Für das Olympia-Team kann Koschel aus einer Riege von sieben bis acht Reitern wählen. „Die Leistungsdichte ist sehr eng, das macht es sehr spannend.“ Sein Ziel für Olympia: „Wenn wir drei Reiter hätten, die bei den Olympischen Spielen im Durchschnitt 70 Prozent oder etwas mehr hätten, das wäre klasse. Ob das dann unter den Top Ten oder den Top Acht sein kann, muss man abwarten.“

Japanisch essen

Einen Tipp hat Christoph Koschel noch für alle, die eine Reise zu den Olympischen Spielen in Tokio anstreben. „Wenn man in Japan Sushi essen geht, hat das nichts mit dem zu tun, was wir in Europa unter Sushi verstehen. Sushi in Japan bedeutet ein Riesenstück Fisch auf einem kleinen bisschen Reis.“ Auch Fleisch werde in Japan viel gegessen. „Aber das Gute ist: Es werden in Japan keine Haustiere verzehrt.“

Viel Fisch, wenig Reis: Das ist Sushi in Tokio wie Christoph Koschel ihn kennengelernt hat. Foto: Shutterstock

Es habe einige Zeit gedauert, aber inzwischen sei er ein echter Fan der japanischen Küche. Und dann braucht man eigentlich nur noch eins zu wissen: „Daijoubu!“, was so viel heißt wie „Alles okay, kein Problem.“

Kim Kreling

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