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Thermoregulation beim Pferd
Scheren oder wachsen lassen?
Der Herbst naht und mit ihm stellt sich für viele Pferdebesitzer wieder die Frage, ob das Pferd eingedeckt und sogar geschoren wird oder ob das Winterfell den Vierbeiner in einen Teddy verwandeln soll. Eine eindeutige Antwort gibt es hierbei nicht, dennoch lohnt es, sich einmal mit den Thermoregulationsmechanismen des Pferdes auseinanderzusetzen und die Entscheidung auf deren Grundlage zu treffen.
Pferde sind durch ihre perfekt abgestimmten Regulationsmechanismen optimal an die verschiedensten Witterungsbedingungen angepasst. Foto: Arnd Bronkhorst
Evolutionstheoretisch betrachtet, sind Pferde durch ihre Thermoregulationsmechanismen sehr gut an die verschiedensten klimatischen Wetterbedingungen angepasst. „Der ursprüngliche Lebensraum der Wildvorfahren unserer Hauspferde waren verschiedenartige Steppenlandschaften wie Wüsten-, Gras-, Busch- und Baumsteppen sowie Savannen- und Tundrengebiete. Charakteristisch für derartige Landschaften ist, dass es tagsüber sehr heiß wird, in der Nacht stark abkühlt und es so zu großen Temperaturschwankungen innerhalb von 24 Stunden kommt. Zum anderen sind Wind und eine starke Sonneneinstrahlung für diese Regionen landschaftstypisch. An derartige Witterungsverhältnisse ist das Pferd über mindestens 25 Millionen Jahre angepasst. Pferde verfügen somit angeboren über hervorragende Mechanismen, um sich sowohl an Hitze und Kälte als auch an Temperatur schwankungen anzupassen“, erklärt Dr. Margit Zeitler-Feicht, Expertin für Pferdeverhalten und -haltung von der TU München.
Grundprinzipien
Anders als weitläufig bekannt, richtet sich der Fellwechsel primär nach der verkürzten Tageslichtdauer und nur sekundär nach den sinkenden Temperaturen. Diese Veränderung der Fellstruktur verlangt den Pferden viel ab, was teilweise als Leistungsminderung wahrgenommen wird. Um diese Einschränkung zu umgehen, greifen viele Pferdehalter auf frühzeitiges Scheren und Eindecken zurück, um dem natürlichen Mechanismen der Thermoregulation entgegenzuwirken. „Grundsätzlich dient die Thermoregulation der Erhaltung der Körperkerntemperatur von 37,5 bis 38,5 Grad. Für deren Aufrechterhaltung muss der Körper im Bereich der sogenannten thermoneutralen Zone keine Energie aufwenden.
Ist ein Pferd beispielsweise an Cushing erkrankt, kann es sein, dass man beim Fellwechsel im Frühjahr durch Scheren nachhelfen muss. Foto: Christiane Slawik
Nach neueren Untersuchungen ist diese Zone beim Pferd recht breit, sie liegt in etwa zwischen minus 8 und plus 25 Grad Celsius Außentemperatur. Ist es jedoch zu warm und die Kerntemperatur steigt, muss vom Körper aktiv Wärmeenergie abgegeben, wird es zu kalt, muss Wärme produziert werden. Um das zu gewährleisten, verfügt das Pferd über äußerst effiziente Thermoregulationsmechanismen“, sagt Dr. Zeitler-Feicht.
Regulationsmechanismen
Zu den Thermoregulationsmechanismen zählen in erster Linie die strukturellen Komponenten bestehend aus Hautdicke, Haarkleid und den Schweißdrüsen. Dabei passt sich das Haarkleid den Umgebungszuständen sowie dem Lebensraum an. Auch ist es bei Fohlen, alten und adulten Tieren und bei bestimmten Stoffwechselerkrankungen, wie zum Beispiel Cushing, jeweils unterschiedlich ausgebildet. Durch das Aufstellen der Haare wird bei niedrigen Temperaturen die Isolationsfunktion durch die zusätzliche Luftschicht verstärkt und die Anordnung der Haare wirkt zusammen mit den Talgdrüsen der Haut wasserableitend. Eine besondere Funktion übernimmt auch die Haut(dicke).
So lässt sich beobachten, dass Pferde im Jahreszyklus zum Winter hin mehr fressen, um die Hautdicke bzw. die Fettschicht zu vergrößern. „Auch dieses eigenmotivierte Verhalten schützt das Pferd vor unangenehmen Witterungsbedingungen“, erklärt Zeitler-Feicht. Sie fährt fort: „Gerade bei niedrigen Temperaturen, anhaltendem Wind und Niederschlag oder auch bei direkter Sonneneinstrahlung suchen Pferde instinktiv Schutz“. Auch rasse- und typspezifische Unterschiede hinsichtlich der strukturellen Komponenten lassen sich ausmachen: So kann grob in einen Nord- und einen Südtyp unterteilt werden, die sich zum Beispiel hinsichtlich des Unterhautfettgewebes und der Fellstruktur unterscheiden.
Fenster und Türen auf! Nur weil einem als Mensch kalt ist, bedeutet das nicht, dass auch das Pferd friert. Ganz im Gegenteil: Frischluft und eine an das Außenklima angepasste Stallluft sind wichtig. Foto: Christiane Slawik
Einflussfaktoren
Neben der Witterung gibt es noch andere Faktoren, die die Funktion der natürlichen Thermoregulation herabsenken oder gar einschränken. „Stoffwechselprozesse erzeugen auf natürliche Weise sehr viel Wärme und tragen so als Komponente der Regulationsmechanismen einen entscheidenden Anteil bei. Bei alten Pferden sind aber gerade diese Prozesse stark verlangsamt, wodurch die Pferde mehr Energie aufwenden müssen, um die Körperkerntemperatur stabil zu halten“, erläutert Dr. Miriam Baumgartner, Wissenschaftlerin an der TU München. Auch chronisch oder schwer kranke Pferde können der jahreszeitlichen Anpassung nicht immer nachkommen. So kann mit partiellem Scheren nachgeholfen werden, wenn das Fell im Frühjahr nicht ausfällt und das Pferd übermäßig schwitzt.
Das Pferd weist am gesamten Körper Schweißdrüsen auf. So kann durch die Verdunstung des Schweißes die Körpertemperatur effektiv und zügig herabgesenkt werden. Foto: Christiane Slawik
Das Scheren im Winter greift in die natürlichen Thermoregulationsmechanismen des Pferdes ein und erzwingt ein entsprechendes Eindecken, damit das Pferd nicht friert. Foto: Frank Sorge
Folgen dauerhaften Eindeckens
• Anstieg der Körpertemperatur (bereits in wenigen Stunden unter Sonneneinstrahlung; nachgewiesen auch bei leichten, luftdurchlässigen Fliegendecken im Sommer). Klinische Symptome sind: Abgeschlagenheit, verminderte Leistungsfähigkeit bis hin zu Kreislaufproblemen und/oder Koliken.
• Erhöhung des Infektionsrisikos: Durch die permanente unnatürliche Wärmezufuhr mittels Decken verlieren Pferde nach und nach die Fähigkeit zur Thermoregulation. Das macht das Immunsystem anfälliger für Krankheiten.
• Ischämische Schädigungen durch unpassenden Sitz der Decken oder durch permanenten Druck (Schmerzen durch Minderdurchblutung der Haut insbesondere am Widerrist. Folge: Rückenprobleme). Daher sollten nur Decken mit guter Passform, leichten Materialien und guter Atmungsaktivität verwendet werden.
• Erhöhung des Hautinfektionsrisikos: Werden die Hautatmung und der natürliche Feuchtigkeitsaustausch der Körperoberfläche gestört, bildet sich ein idealer Nährboden für Hautpilzerkrankungen.
Heiße Sommertage
Während die Regulationsmechanismen im Winter zur Haltung der Temperatur dienen, muss im Sommer meist überschüssige Wärme abgegeben werden. Dazu ist das Pferd mit zahlreichen Schweißdrüsen ausgestattet – diese Ballung, über den gesamten Körper verteilt, weist fast kein anderes Säugetier auf.
Unter Fliegen- und Ekzemerdecken kann sich die Wärme deutlich stauen. Foto: Arnd Bronkhorst
Die Transpirationsrate liegt in Ruhe im Schnitt bei einem Liter pro 100kg Körpergewicht und Tag. Durch den austretenden Schweiß entsteht Verdunstungskälte, die die Abgabe von überschüssiger Wärme begünstigt. Unter hoher Belastung kann die Körpertemperatur an heißen Tagen unter Umständen auf bis zu 41 Grad Celsius ansteigen, weshalb in solchen Fällen Anpassungen bei der Trainingsintensität vorgenommen werden sollten. Bei schwül-heißem Wetter, also hohen Temperaturen in Verbindung mit großer Luftfeuchtigkeit, ist die Effektivität der Thermoregulationsfunktionen des Pferdes herabgesetzt. Durch den Schweiß, den fehlenden Wind und die hohe Luftfeuchtigkeit ist das Pferd quasi in einer Hitzeblase umschlossen. Der Schweiß verdunstet nicht mehr so gut, sondern rinnt lediglich an den Haaren herunter. Wird ein gefährlich überhitztes Pferd nicht durch Herunterkühlen und entsprechende Unterbringung versorgt, können schwerwiegende gesundheitliche Folgen drohen.
Gut abwägen
Die Praxis des Scherens und Eindeckens wird beim Großteil der Pferdehalter im Herbst und in den Wintermonaten praktiziert. Laut neuen Studien decken über 80 Prozent aller Pferdehalter ihre Pferde ein. Dabei wird entweder frühzeitig eingedeckt, um der Bildung des Winterfells entgegenzuwirken, oder nach der Schur, durch welche die natürlichen Regulationsfunktionen außer Kraft gesetzt werden. Die Thermoregulation wird über Rezeptoren in der Haut gesteuert und richtet sich nach den äußeren Witterungsbedingungen. Durch das Auflegen einer Decke wird diese Reiz übertragung gehemmt. Zusätzlich steigt die Temperatur in den Bereichen unter der Decke, was im Umkehrschluss einen erhöhten Energieverbrauch mit sich bringt. Auch die Vitamin-D-Synthese wird durch mangelndes Sonnenlicht gehemmt. Ein weiterer Faktor bezieht sich auf das Gewicht der aufgelegten Pferdedecken, welches bei langer Tragzeit die Durchblutung mindern kann. Moderne Decken bieten den Vorteil, dass sie aus leichten und atmungsaktiven Materialien bestehen. Wichtig ist vor allem bei dauerhafter Weidehaltung im Winterhalbjahr, dass eine Decke einen Witterungsschutz niemals ersetzen kann. Ob das Pferd eingedeckt wird, sollte in jedem Falle gut überlegt sein. Es gilt, unnötiges Eindecken im Winter zu vermeiden.
Haarlänge und Training
Das Scheren und Eindecken der Pferde hat sich in erster Linie aus der Nutzung als Sport- und Freizeitpartner heraus entwickelt. Ein tatsächlich nachgewiesener Unterschied beim Training ergibt sich primär nur in Bezug auf die Respirationsrate, die bei geschorenen Pferden niedriger ist. Einfluss auf die Körpertemperatur und die Herzfrequenz, die als Belastungsindikator gesehen wird, hat eine Schur nicht. Der entscheidende Unterschied liegt in der Regenerationszeit nach der Bewegung: Diese ist bei geschorenen Pferden, sofern sie nach der Bewegung nicht direkt wieder eingedeckt werden, deutlich kürzer. Das Pferd kann die durch die Bewegung entstandene Wärmeenergie deutlich schneller abgeben und somit die Körpertemperatur senken. Hartnäckig hält sich der Glaube, dass das Erkältungsrisiko durch ein Scheren im Winter minimiert wird. Dies kann aber (bisher) nicht in direkten Zusammenhang zum Scheren und Eindecken gebracht werden. Pferdehalter neigen eher dazu, das eigene Kälteempfinden auf das des Pferdes zu übertragen. So wird die Frischluftzufuhr gerade im Winter in vielen Fällen durch geschlossene Fenster und Tore vermindert. „Atemwegserkrankungen treten in den Wintermonaten vermehrt auf, was aber meist auf eine knappe Frischluftzufuhr zurückzuführen ist. Die verbleibende Luft vermischt sich mit dem Staub der Einstreu und dem Ammoniak der Exkremente. Viele Erkrankungen der Atemwege sind auf gut gemeinte, aber völlig kontraproduktive Managementmaßnahmen zurückzuführen“, stellt Dr. Baumgartner klar.
Das Erkältungsrisiko bei ungeschorenen Pferden kann aber dadurch steigen, wenn dem Trockenreiten nicht genügend Zeit eingeräumt und das Pferd mit nassem Fell in die Box zurückgestellt wird. Entsprechendes Trockenreiten und Abpflegen bleiben unerlässlich, um die Gesunderhaltung zu gewährleisten. In einigen Fällen leistet bei sehr dichtem und langem Winterfell eine Schur Abhilfe. Wird geschoren, reicht eine Teilschur oft vollkommen aus. Für das Management von Reitsportanlagen gilt: Diese sollten so angelegt sein, dass eine dauerhafte Frischluftzufuhr ohne Zug gegeben ist und sich die Temperatur nach den Außentemperaturen richtet.
Der Schnee bleibt auf dem Fell liegen – ein Indiz der ausgezeichneten Isolationsfunktion. Foto: Stefan Lafrentz
Praxiseinblicke
Dressurreiterin Uta Gräf ist einer der wenigen Spitzensportler, die weitestgehend auf das Scheren und Eindecken verzichtet. „Das liegt in erster Linie an der Haltung unserer Pferde. Egal ob Turnier-, Pensions-, Beritt- oder Seniorpferde – es stehen alle in Herden draußen. Wenn nun ein Pferd eine Decke tragen würde, würde das beim Spielen das Verletzungsrisiko erheblich steigern. Außerdem würde die Decke wohl auch nicht allzu lange halten“, erzählt die Grand-Prix-Reiterin. Bei Sportpferden, die auch über den Winter hindurch auf großen Turnieren starten, macht das Scheren und Eindecken hingegen durchaus Sinn. Neben veränderten Haltungsbedingungen in aufgeheizten Stallzelten, im Vergleich dazu wenig Bewegung an der frischen Luft und den Starts an mehreren aufeinander folgenden Tagen stellt das Scheren und Eindecken durchaus eine Optimierung hinsichtlich der unterschiedlichen Bedingungen, der Zeitersparnis und der schnellen Regenerationszeit dar.
„Zu Hallenturnieren schere ich die Pferde auch, in der Regel aber nur teilweise. Ich finde, das ist ein guter Kompromiss. So verkraften die Pferde die plötzliche Hitze der Turniere und Ställe besser und dennoch wird die Regulation nicht gänzlich außer Kraft gesetzt und zu Hause können sie schnell wieder nach draußen“, resümiert Gräf. Primär wird das großflächige Scheren wohl der Zeitersparnis halber praktiziert – gerade, wenn Berufsreiter viele Pferde pro Tag bewegen müssen und dem Trockenreiten nicht zu viel Zeit widmen können. „Ob geschoren oder ungeschoren – hinsichtlich der Leistung ist mir noch nie ein Unterschied aufgefallen“, sagt die Grand-Prix-Reiterin. Sie fährt fort: „Nach dem Training werden die Pferde abgeritten, dann wird das Fell in Wuchsrichtung gestriegelt und dann kommen die Pferde zum endgültigen Trockenführen noch in die Führmaschine. So kann man auch Zeit sparen, ohne dass das Pferd geschoren werden muss. Die natürliche Thermoregulation ist doch im Prinzip ein richtiger Luxus!“
Bei genauem Hinsehen an Hals und Hinterhand zu erkennen: Das Pferd von Uta Gräf ist nur teilweise geschoren. Foto: Stefan Lafrentz
Der Schnee bleibt auf dem Fell liegen – ein Indiz der ausgezeichneten Isolationsfunktion. Foto: Stefan Lafrentz
Kurz gefasst
Durch die natürlichen Thermoregulationsfunktionen sind die Pferde optimal an das europäische Klima und sogar an große Temperaturschwankungen angepasst. Als wichtigste Maßnahme ist ein entsprechender Witterungsschutz anzubieten, den das Pferd bei anhaltendem Regen, Wind und niedrigen Temperaturen aufsuchen kann, wenn es ganzjährig oder über einen längeren Zeitraum ganztägig draußen gehalten wird. Denn ist das Fell einmal durchnässt, sind auch die Regulationsfunktionen außer Kraft gesetzt und das Pferd kühlt aus. Das dauerhafte Eindecken eines gesunden Pferdes sollte dabei niemals als eine Alternative zu einem entsprechenden Schutz angesehen werden. Alte und kranke Pferde bedürfen hingegen einer individuellen Betrachtung, da diese die Körperkerntemperatur schlechter halten können bzw. mehr Energie dafür aufwenden müssen.
Hinsichtlich der Regenerationszeit gibt es durchaus entscheidende Unterschiede von geschorenen und ungeschorenen Pferden. So kann das Scheren bei stark beanspruchten Sportpferden, die häufig in aufgeheizten Hallen und Ställen bewegt werden und untergebracht sind, durchaus von Vorteil sein. Um die natürlichen Thermoregulationsmechanismen nicht außer Kraft zu setzen, sollte aber auf eine Teilschur zurückgegriffen werden, um den Pferden bei guten Witterungsbedingungen die Decke abnehmen zu können. Ganz gleich, ob geschoren oder nicht, ein entsprechendes Warm- und Trockenreiten bleibt unerlässlich. „Sowohl das dauerhafte Eindecken als auch das Scheren des Haarkleids führen zu einer langfristigen Funktionsstörung der Thermoregulation und zu einer Beeinträchtigung des Wohlbefindens. Deshalb müssen sich Eindecken und Scheren an den Notwendigkeiten orientieren. Schöneres Aussehen im Winter ist kein Grund dazu“, resümieren Dr. Zeitler-Feicht und Dr. Baumgartner.
Lorella Joschko
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