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Paralympics in Paris
Persönlichkeiten der Pferdeszene: Toni Wiedemann
Jagdreiter im Herzen
Sein letztes Hemd würde Toni Wiedemann wohl für das Jagdreiten geben. Seit Jahrzehnten engagiert sich der Bayer für den Sport in Rot – und lässt sich dabei von seinem Schicksal nicht stoppen. Im Gespräch mit ihm wird eines sofort klar: Er ist ein Vorbild.
Alle Fotos: Jacques Toffi
Aufgeben gibt’s nicht – das ist Toni Wiedemanns Credo. In seinem Fall gehört einiges dazu, das auch wirklich zu leben. Der 74-Jährige ist seit einem Reitunfall vor knapp zehn Jahren auf einen Rollstuhl angewiesen. In den Sattel steigen kann er nicht mehr. Das hindert ihn aber nicht daran, sich für den Reitsport, genauer gesagt für das Jagdreiten, zu engagieren – mit Herzblut und allem, was er hat. Man könnte fast schon von Besessenheit sprechen, mindestens aber von tiefer Faszination. Wenn er aus seinem Leben erzählt, spricht er zwar nicht besonders laut, aber jeder seiner Sätze hat seinen eigenen Lautstärkepegel. „Aus Niederlagen lernt man“ ist so ein Satz oder „Pferde haben viel bewirkt in meinem Leben“ und „Hunde und Pferde sind eine Verpflichtung“. An Jahreszahlen und Tage, egal aus welchem Jahrzehnt, erinnert er sich wie aus dem Effeff. Er gestikuliert viel mit seinen Händen. Meist trägt er Handschuhe – zum einen, weil er seinen Rollstuhl manuell bewegt und zum anderen weil er immer kalte Hände hat, wie er berichtet. Das Jagdreiten hat den Bayer schon früh gepackt. Geboren ist Toni Wiedemann 1950 und aufgewachsen mit einer älteren Schwester im bayerischen Friedberg in der Nähe von Augsburg. Seine Familie betrieb in der Nachkriegszeit eine Bäckerei. Nachts wurde der junge Toni losgeschickt, um Milch zum Backen zu holen. Während er auf dem Bauernhof wartete, dass die Milchkannen gefüllt werden, besuchte er die Pferde und Kälber im Stall. Außerdem fuhr er mit seinem „Radl“ raus aufs Land, wo die Pferde in der Landwirtschaft arbeiten mussten. Dort ritt er auf den Kaltblütern. Schon mit sechs Jahren verfolgte er den Reitsport, der zu der Zeit unter anderem von Fritz Thiedemann und Hans Günter Winkler dominiert wurde. „1956 Olympia Stockholm – daran kann ich mich noch gut erinnern. Als Winkler mit Halla Gold gewann, saß ich am Volksempfänger. Ja, früher hieß das Radio noch Volksempfänger“, erzählt Toni Wiedemann.
Blut geleckt
Mit 14 Jahren ging er in die Bäckerlehre. In seiner freien Zeit fuhr er regelmäßig zum Reitclub Augsburg. Da hing er an der Bande und schaute beim Reitunterricht am Nachmittag zu und kannte irgendwann jedes Kommando, berichtet er. „Im Jahr 1966 wurden dann an der Volkshochschule Reitkurse angeboten“ – diese Gelegenheit nutzte Toni Wiedemann und kaufte sich einen Zehnerblock für 50 Mark von seinem selbst gesparten Geld. „Die erste Stunde fand in der Bahn statt. In der zweiten Stunde sind wir schon im Schritt ins Gelände gegangen – die Pferde waren so brav. In der sechsten Stunde wurde angaloppiert, einen Feldweg hoch. Das hat geklappt, keiner ist runtergefallen. Ich saß auf dem Schulpferd Marietta. Da hab’ ich Streckblut geleckt.“
Erste Berührungspunkte
Es sollte nicht bei einem Zehnerblock bleiben. Während seiner Reitstunden in Augsburg lernte er auch das erste Mal eine Meute kennen: Er begegnete der Bayern-Meute auf einem amerikanischen Truppenübungsplatz, der am Wochenende von Reitern und Motorradfahrern genutzt werden konnte. Toni Wiedemanns Interesse war geweckt und er beobachtete die Hunde beim Training, einer Jagd und bei einer Schaunummer. Die Meute bestand allerdings nur ein paar Jahre und wurde dann aufgelöst. Während Mitte der 60er-Jahre die bayerische Pferdezucht aufgebaut wurde, ging Toni Wiedemann einmal im Jahr mit dem Zuchtverband auf „Nordtour“. Er besuchte Züchter in Niedersachsen und Schleswig- Holstein und landete irgendwann auch auf der Reeperbahn in Hamburg und auf dem Spring- und Dressurderby, wo Helga Köhler, Graf Hardenberg senior und Paul Schockemöhle mit seinen Bereitern unterwegs waren.
Als Master führte Toni Wiedemann viele Jagden an.
Von seinem ersten Geld als Bäckerlehrling leistete sich Toni Wiedemann einen Zehnerblock für Reitstunden und kam in Kontakt mit einer Meute – seine Faszination fürs Jagdreiten war geweckt.
Bausparvertrag gegen Pferd
1969 kaufte der Bayer sein erstes eigenes Pferd, zusammengespart über einen Bausparvertrag, einen Hannoveraner von Trautmann x Domspatz mit dem Namen Taras Bulba, dreieinhalbjährig. Mit ihm startete er in Materialprüfungen und Springprüfungen der Klasse A und L. Sein zweites Pferd war der Westfale Rock’n’Roll von Radetzki x Rasputin, Spitzname „der Rocker“. Rund fünf Jahre nach seinem ersten Meutekontakt traf Toni Wiedemann 1972 schließlich auf die Cappenberger Meute – eine Begegnung, die den Rest seines Lebens prägen und bestimmen sollte. „Als ich die Cappenberger Meute kennenlernte, war ich fasziniert. Deren Gründer, Franz Jandrey, war mein großer Meister.“ Wiedemann wurde Mitglied des Cappenberger Vereins, wurde in die Equipage der Cappenberger aufgenommen und holte die Meute regelmäßig nach Augsburg. Die Cappenberger hatten vier Meuten, zwei in Norddeutschland, eine in Baden- Württemberg und eine in Bayern.
Vom Jagdfieber gepackt
Toni Wiedemann fing an, sich für die Jagdreiterei zu engagieren und organisierte den Jagdbetrieb in Bayern – das hat sich bis heute nicht verändert. Seine Kollegen und er wickelten zwischen 80 und 100 Jagdtermine im Jahr ab, unter anderem die Norderney- Jagden mit bis zu 100 Pferden. Ende ’84 hing der 34-jährige Toni, der mit 20 Jahren die Meisterprüfung abgelegt hatte, seinen Bäckerberuf an den Nagel und war in der Werbung beschäftigt und beim Malteser Hilfsdienst. 1986 gründete er in München mit 24 Gründungsmitgliedern, darunter SKH Prinz Ludwig von Bayern, den Schleppjagdverein von Bayern (SvB) und pachtete die Cappenberger Meute für drei Jahre. Er wirkte mit seinen Hunden bei 20 Film- und Fernsehproduktionen mit (Forsthaus Falkenau, Felix Mendelssohn Bartholdi, der Freischütz, Sissi…), ritt über 20 Mal auf einer Freilichtbühne mit 50 Hunden und war mit seiner Meute bei der ersten „Bayerns Pferde“ (später „Pferd International“) und inzwischen über 100 mal dabei.
Mit nötigem Sachverstand
Schon drei Jahre später hatte der SvB 200 Mitglieder, übernahm 30 Foxhounds von den Cappenbergern, pachtete Stallungen auf Gut Koppenzell in Pöttmes und errichtet dort eine großzügige Kennelanlage. Man sagt, Toni Wiedemann führte einen vorbildlichen Kennel. Beim Besuch von englischen und französischen Mastern fiel einmal die Aussage, dass dies der erste Kennel sei, der nicht nach Hunden rieche. „Man kann viel machen über die Fütterung mit Mischfutter und unsere Hunde bekommen nur einmal die Woche Pansen“, erläutert der Bayer sein Hundemanagement, das er bis heute beibehalten hat. „Und die Anlage muss man entsprechend sauber halten und lüften. Außerdem brauchen die Hunde viel Auslauf.“ Später stemmte der Verein einen Kennelneubau in Gundelsdorf mit 26 Hektar Land, auf dem Schleppjagden und drei Trainingswochen im Sommer stattfinden. Hof und Meute sind im Vereinsbesitz. Im November 2011 bezog der SvB diese neue Kennelanlage mit vorbildlicher Haltung der Meute und optimalen Trainingsmöglichkeiten. Über die Jahre wurden 37 Würfe mit über 350 Hunden selbst gezogen. „In den Jahren fand immer ein Zuchtaustausch mit anderen deutschen Foxhound-Meuten statt. Die Ausbildung der Junghunde beginnt frühzeitig und mündet im Herbst in deren erste Jagdsaison. Bei der alljährlichen Vorstellung der Nachzucht bei der Junghundeschau in Schwarzenstein erzielten die Hunde immer wieder Prämierungen. Derzeit hat der SvB einen Kennelbestand von 65 Foxhounds, wobei im Jagdbetrieb bis zu 25 Koppeln im Einsatz sind“, heißt es auf der Homepage des SvB. Die Hunde sind im Einsatz auf großen Turnieren, Hengstparaden und kleinen und großen Volksfesten.
Für Toni Wiedemann sind Hunde und Pferde eine Verpflichtung, die ihn immer weitermachen lässt.
Kontakte knüpfen, mit Politikern sprechen, Geld für die Jagdreiterei sammeln: Toni Wiedemann hat sich ganz der Arbeit für den Schleppjagdverein von Bayern verschrieben.
Toni Wiedemann ist ein Fachmann in Sachen Hundemanagement.
Unfall mit Folgen
Am 10. Oktober 2015 veränderte sich schlagartig alles. Auf die Frage nach seinem Schicksalstag muss Toni Wiedemann erst einmal tief Luft holen. Es passierte auf einer Jagd am Chiemsee. Wiedemann ritt als Master an der Spitze des Feldes. Ein Jagdreiter ritt einen Schimmel, der zu dem Zeitpunkt vier Monate lang keine Jagd gegangen war. An einem Graben in der zweiten Schleppe stürzte der Reiter, der Schimmel ging durch. „Der Weg führt etwa 150 Meter über eine Allee, dann rechts in die Wiese. Ich galoppiere auf der Allee und höre, wie es hinter mir kracht und scheppert. Der Schimmel galoppiert mit flatternden Bügeln hinter meinem Pferd und mir her, schlägt aus. Am letzten Baum, bevor der Weg in die Wiese abbiegt, schneidet der Schimmel mich, so dass mein Pferd an den Baum herangedrückt wird, eine alte Eiche, und mich abstreift. Ich falle auf den Rücken.“ Die Szenerie scheint sich eingebrannt zu haben, wahrscheinlich ist Toni Wiedemann sie wieder und wieder in seinem Gedächtnis durchgegangen.
Es wird schwarz
Er bricht sich den sechsten Halswirbel. Die Sanitäter werden gerufen, er und sein Kollege müssen beide mit einem Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen werden. „Ich konnte mich noch bewegen und reden. Als ich auf der Trage lag, wollten sie mir die Stiefel aufschneiden. Ich sagte: Seid ihr verrückt, ihr könnt doch meine Stiefel nicht aufschneiden! Die Sanitäter beschlossen: Wir müssen ihn jetzt ruhigstellen, sonst läuft er uns davon – daran kann ich mich noch erinnern.“ Dann ist erst einmal alles schwarz. Eine Woche später wachte Toni Wiedemann in einer Spezialklinik wieder auf. Dort verbrachte er zehn Monate, drei Monate musste er künstlich beatmet werden. Toni Wiedemann ist querschnittsgelähmt. Seinen Oberkörper und seine Arme kann er bewegen, die Finger sind eingeschränkt in ihrer Beweglichkeit. Auf einen elektrischen Rollstuhl verzichtet er. „Wenn du elektrisch bist, wirst du noch bequemer und er braucht mehr Platz.“
Kein Grund aufzugeben
Die neue Lebenssituation war für Toni Wiedemann kein Grund aufzuhören. „Aus Niederlagen geht man gestärkt hervor. Der Verein musste weitergehen!“ Der 74-Jährige hat sich bis heute vollkommen der Jagdreiterei verschrieben, plant Termine für den Jagdverein, ist in der Bürgerallianz Bayern, netzwerkt, spricht mit Politikern, sammelt Gelder, kümmert sich um die Hunde. Er hat über eine halbe Millionen Euro Schulden abgetragen und den Verein schuldenfrei gemacht. „Ich habe die Leute entsprechend erzogen, sie dürfen auch jetzt weiter spenden“, sagt er schmunzelnd. Der Schleppjagdverein von Bayern ist heute mitgliedermäßig der zweitgrößte Verein in Deutschland. Die aktuelle Mitgliederzahl liegt bei rund 450 Mitgliedern. Jährlich gibt es vier Schleppjagdtrainings. Damit nutzen Jahr für Jahr über 120 Reiterinnen und Reiter die Gelegenheit, die Tradition und den Sport des Jagdreitens kennenzulernen. Toni Wiedemann führt ihn seit 38 Jahren. Bis auf eine Ausnahme wurde er immer einstimmig zum Präsidenten gewählt.
Familie mit Jagdsinn
Wiedemanns Frau Sissi ist an seiner Seite, sie war seine Stellvertreterin, seit seinem Unfall führt sie die Meute als Huntslady. Kennengelernt haben die beiden sich übers Reiten. Sie war Turnierreiterin. Die beiden trennen 14 Jahre. „Meine Frau hat sich Zeit gelassen damals. Ich habe schon früher gewusst, dass das passt mit uns. Bei ihr hat es ein bisschen gedauert.“ Das Paar hat einen Sohn, der zwar selbst nicht mehr reitet, aber den Eltern am Stall hilft. Toni Wiedemann lässt es sich nicht nehmen, weiterhin auf „Nordtour“ zu gehen, zur Junghundeschau nach Schwarzenstein, zu den Deutschen Meisterschaften nach Balve oder zum Springderby nach Hamburg und wieder zurück zur Pferd International in München. „Pferde haben viel bewirkt in meinem Leben. Sie bringen dich der Natur näher, man bekommt ein ganz anderes Naturverständnis. Ein Pferd ist Partner. Es ist eine gegenseitige Verantwortung zwischen Mensch und Pferd und genauso zwischen Mensch und Meute. Auch für die Hunde ist Bewegung und Beschäftigung das A und O, dann hast du eine ausgeglichene und gesunde Meute und wenig mit dem Tierarzt zu tun.“ Der Senior blickt zurück auf fast 40 Jahre Mastership. Und nach vorn. Es gibt noch genug zu tun für die Jagdreiterei.
Laura Becker
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