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Lernen vom Reitmeister: Michael Jung

„Ein Fehler ist immer ein Fehler des Reiters“

31. Juli 1982 – in Bad Soden im Taunus begrüßt Michael Jung lautstark das Leben. 31. Juli 2012 – in London wird Michael „Michi“ Jung an seinem 30. Geburtstag Olympiasieger. „Der Erfolg wurde ihm in die Wiege gelegt“ – dieser Spruch bekommt angesichts jener Daten ein ganz neues Gesicht, das Gesicht von Reitmeister Michael Jung.

Lange Zeit das beste Vielseitigkeitspaar der Welt und immer ein Zuschauermagnet: Michael Jung und La Biostetique-Sam FBW. Alle Fotos: Stefan Lafrentz

Man könnte auch formulieren: „Der Erfolg wurde ihm in den Laufstall gelegt.“ Mutter Brigitte Jung erzählt: „Als Michi drei Monate alt war, haben wir ihn im Laufstall an die offene Reitbahn gestellt.“ Tatsache ist: Schon Michaels Großeltern beiderseits waren pferdebegeistert, die reitmeisterlichen Eltern Brigitte und Joachim Jung sind Pferdeleute durch und durch. Vater und Trainer Joachim ist von Kindesbeinen an selbst geritten, beschloss im Alter von 14 Jahren Berufsreiter zu werden und machte seine Reitlehrer-Prüfung 1980 bei Paul Stecken. 1982, als Michael noch nicht laufen konnte, gründete die Familie ihre Reitschule in Altheim bei Horb. Das „Projekt“ der Familie Jung hieß nicht: Erfolg! Das Projekt der Familie war die Reitschule. In Altheim ist Michael aufgewachsen, das ist sein Zuhause, dem er noch heute eng verbunden ist: „Ich glaube schon, dass der Schwarzwald mich als Menschen geprägt hat. Hier fühle ich mich wohl und genieße die Stille.“

Olympische Sternstunde: Michael Jung wird an seinem 30. Geburtstag in London 2012 Doppel-Olympiasieger.

Im Ponyparadies

Die „Vielseitigkeit” beschäftigte Michael Jung schon im frühesten Alter – in etwas anderer Art und Weise: Nicht selten holte Mutter Brigitte Michael vom Kindergarten mit dem Pony ab – der Jung’sche „Kindergarten-Shuttle“. Als Michael fünf war, haben er und sein älterer Bruder Philipp auf den Ponys Sally und Moritz mit Opa Peter am liebsten Cowboy und Indianer gespielt – der Wilde Westen auf dem Ponyrücken. „Unsere Reitanlage war für die Jungs ein Paradies: mit Baumhäusern und dem nahen Wald als Abenteuerspielplatz“, erklärt Mutter Brigitte. Im Sommer wurde die Kutsche an die Ponys gehängt, im Winter der Schlitten – der Pony-Express. Alles was Spaß machte, Hauptsache mit Pony. „Mit vier habe ich zum ersten Mal auf einem Pony gesessen“, erzählt Michael. „Bis ich acht Jahre alt war, lief alles spielerisch.“ Aber der sportliche Ehrgeiz war bald geweckt. Schnell stieg er auf Großpferde um und bestritt seine ersten Turniere, mit zehn gewann Michael das erste A-Springen. Auf dem Heimweg von der Schule hat er sich damals häufig kleine Hindernisse im Wald aufgebaut – Parcourstraining à la Michi Jung.

Der Gold-Junge

Seine Karriere in der Vielseitigkeit nahm 1999 so richtig an Fahrt auf: Mit Maricos siegte Michael Jung das erste Mal bei den Deutschen Juniorenmeisterschaften und gewann Teamgold bei der Europameisterschaft. Inzwischen hat der Pferdewirtschaftsmeister bekanntermaßen alles gewonnen: EM-Gold, WM-Gold und Olympia-Gold – jeweils mehrfach im Einzel und im Team, insgesamt zwölfmal Championatsgold! 2016 wird Michael Jung außerdem mit dem Titel „Reitmeister“ ausgezeichnet – mit 34 Jahren ist er bis heute der bei weitem Jüngste, dem diese Ehre zuteilwurde. Erfolge auf allen Ebenen, die nicht zuletzt auf der Philosophie dieses Ausnahme-Pferdemannes beruhen: „Ein Fehler ist immer ein Fehler des Reiters, weil ein Pferd von Haus aus keinen Fehler machen will.“

Kim Kreling

Reitmeister Michael Jung war schon mit vielen verschiedenen Pferden sehr erfolgreich. Bei den Olympischen Spielen in Tokio 2021 heißt sein Partner Fischer Chipmunk FRH. Dieser ist auch sein aktuelles Spitzenpferd.

Auch im Springsattel ist „Alleskönner” Michael Jung erfolgreich sogar bei den Spezialisten unterwegs. Die nächste Herausforderung hat er stets im Blick.

Michael Jungs Ausbildungstipp: Tempounterschiede

Beim Reiten geht es immer um die Kommunikation mit dem Pferd. Je öfter ich diese Kommunikation übe, desto besser wird sie. Jetzt kommen die Tempounterschiede ins Spiel: Durch häufiges Reiten von Tempounterschieden übe und verfeinere ich die Kommunikation mit meinem Pferd. Wie „spricht“ man mit dem Pferd? Durch die Hilfengebung mit Gewicht, Schenkeln und Zügeln – alle drei Hilfen werden bei den Tempounterschieden immer wieder angesprochen und aufeinander abgestimmt. Tempounterschiede gehören für mich in jeder Phase der Ausbildung beim täglichen Training zum Programm. Dabei spielt es gar keine Rolle, ob ich auf einem Spring-, Dressur- oder Vielseitigkeitspferd sitze. Sie fördern Balance, Rittigkeit, Durchlässigkeit, sie fördern insgesamt das Zusammenspiel zwischen Reiterhilfen und Reaktion des Pferdes. Je besser dieses Zusammenspiel, die Kommunikation wird, desto feiner kann die Hilfengebung werden und desto harmonischer wird das Reiten insgesamt – das gilt für alle Disziplinen.

Tempounterschiede in allen Bereichen und Lebenslagen sind Michael Jungs Ausbildungstipp.

Reaktion gefragt

Auch das Alter des Pferdes spielt kaum eine Rolle. Natürlich sollte das junge Pferd sicher in der Balance im jeweiligen Arbeitstempo sein, bevor ich die Tritte oder Sprünge verlängere oder verkürze. Im Schritt muss man mit den Tempounterschieden vorsichtig sein, damit keinesfalls der Takt verloren geht. Ich beziehe mich hier hauptsächlich auf die Unterschiede innerhalb von Trab und Galopp. Es geht bei diesen Tempounterschieden überhaupt nicht darum, vom Arbeitstrab direkt in den Mitteltrab zuzulegen oder vom versammelten Galopp in den starken. Es geht vielmehr darum, Reaktion vom Pferd zu fordern. Reagiert mein Pferd schon auf eine feine Hilfe und legt sofort zu, kann ich auch schon nach fünf oder zehn Metern das Tempo wieder einfangen. Reagiert das Pferd aber nicht auf meine erste Hilfe, muss ich noch einmal nachhaken.

Wichtig dabei ist, dass das Pferd leicht in der Anlehnung und in der Balance bleibt. Fängt es beispielsweise an, bei der Rückführung im Galopp auf die Hand zu drücken, weiß ich, dass die Balance verloren geht, dann muss ich in den meisten Fällen wieder etwas mehr nach vorne ausgleichen. Wenn das Pferd eher dazu tendiert, zu leicht an der Hand zu werden, gebe ich die Verbindung auch schon mal bewusst etwas auf. Damit möchte ich es auffordern, sich vermehrt nach vorne zu orientieren und die Anlehnung aktiv zu suchen. Grundsätzlich gilt auch, dass sich bei den Tempounterschieden der Takt nicht wesentlich verändern darf.

Natürlich kommt es bei dieser Übung auch auf den Typ Pferd an. Habe ich zum Beispiel ein eher „heißes“ Pferd, sollte ich die Tempounterschiede sehr vorsichtig reiten. Trotzdem muss ich auch mit diesem Pferd üben, dass es sich am Schenkel anfassen lässt, ohne davonzustürmen. Habe ich noch ein sehr junges Pferd oder ein Pferd, das etwas weicher in der Rückenpartie ist, dann bin ich beim Einsitzen mit der Gewichtshilfe sehr vorsichtig. Bei einem etwas weiter ausgebildeten Pferd nutze ich die Gewichtshilfe, indem ich beim Zulegen nicht so schwer einsitze, aber vermehrt bei der Rückführung oder gar Versammlung.

Mit Tempounterschieden verbessere ich nicht nur die Kommunikation zwischen Reiter und Pferd, ich kann auch auf spielerische Art und Weise die Konzentration der Pferde immer wieder neu auf die Reiterhilfen lenken. Viel zu häufig beobachte ich, dass Reiter in einem Einheitstempo ihre Trainingsstunde absolvieren. Das fördert weder Kommunikation noch Konzentration und ist für die Pferde schlicht langweilig.

Immer und überall

Tempounterschiede sind extrem variabel einsetzbar: Jeden Tag, zu jeder Phase der Trainingseinheit, auf jedem Pferd in nahezu jedem Alter und auch an jedem Ort. Ich kann Tempounterschiede in der Halle, auf dem Spring- oder Dressurplatz und auch im Gelände wunderbar üben. Gerade im Gelände schulen Tempounterschiede sehr gut die Balance. Nur ein wirklich ausbalanciertes Pferd kann man beispielsweise auf einer Bergabstrecke im Galopp im Tempo variieren. Achtung: Beim Zulegen im Galopp im Bergab äußerst vorsichtig sein, damit das Pferd eben nicht aus dem Gleichgewicht kommt.

Mein Fazit

Bitte keine Reitstunde im „Einheitsbrei“ absolvieren. Durch das häufige Variieren des Tempos – oft nur mit Mini-Tempounterschieden – kommt man schnell mit seinem Pferd auf eine feinere kommunikative Ebene und dadurch dem Endziel jeden Tag ein bisschen näher: der Harmonie zwischen Reiter und Pferd.

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