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Das alte Pferd – Teil II: Krankheiten und Tod

FN-Kongress „Kindgerechter Reitunterricht“

Vielseitig und spielerisch

Vom Blick über den Tellerrand zur Innensicht, vom Abstrakten zum Konkreten, von der Theorie zur Praxis: Das alles bot der Kongress „Kindgerechter Reitunterricht“ der Deutschen Reiterlichen Vereinigung in Warendorf. Ein Thema, das auf großes Interesse stößt, wie die Besucherzahl beweist: 350 Ausbilder suchten Information und Inspiration.

Bewegungs­erfahrungen auf dem Pony
Das Pony als Lehrmeister
pmf_1-17_14_purzelbaumZum Einstieg gab es sportwissenschaftliche Grundlagen von Prof. Dr. Thomas Jaitner, Arbeitsbereich Bewegung und Training am Institut für Sport und Sportwissenschaft der Uni Dortmund. „Koordinative und konditionelle Fähigkeiten sind die Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt bestimmte Bewegungen ausführen können“, sagte Jaitner, wobei er die koordinativen Fähigkeiten wie Gleichgewicht, Rhythmisierung, Reaktion, Differenzierung oder Orientierung bedeutender für das Bewegungslernen sah als die konditionellen (Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit, Beweglichkeit). Diese konditionellen Fähigkeiten stellen jedoch eine ganz wichtige Grundlage zur Entwicklung der für das Reiten so bedeutsamen Koordination dar. Sowohl Koordination als auch Kondition müssen deshalb gefördert werden. Was das für das Training von Kindern und Jugendlichen heißt, fasste Jaitner in dem Satz „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen!“ zusammen. Jede Altersstufe und Entwicklungsphase hat ihre spezifischen Besonderheiten, deshalb muss man unterschiedliche Trainingsinhalte altersgemäß anbieten. „Die koordinativen Fähigkeiten sind ‚von klein‘ auf gut trainierbar und müssen in allen Altersphasen trainiert werden. Hier gibt es kein ‚zu früh‘, aber ein ‚zu spät‘.“ Vielfältige Bewegungsformen und Bewegungskombinationen sorgen für den „Bewegungsschatz“ eines Menschen. Für Kinder im Kindesalter (6 bis 13 Jahre) gelten folgende Trainingsgrundsätze: Koordinationstraining geht vor Konditionstraining, die größten Entwicklungsmöglichkeiten der koordinativen Fähigkeiten liegen zwischen 7 und 12 Jahren, die koordinativen Fähigkeiten müssen durch vielfältige Bewegungsformen und Sportarten entwickelt werden. Kinder müssen abwechslungs- und variantenreich trainiert werden. Einseitige Belastungen sind unbedingt zu vermeiden. Ziel ist es, eine breite motorische Grundausbildung zu schaffen. Für den Nachwuchs im Jugendalter (13 bis 19 Jahre) gelten laut Jaitner folgende Trainingsgrundsätze: Die Ausbildung wird zunehmend sportartenspezifisch auf der Basis einer breiten motorischen Grundausbildung. Die koordinativen Fähigkeiten können in komplexer Form und sportartenspezifisch weiterentwickelt werden. Nach intensiver Vorbereitung können in der Adoleszenz intensive Trainingsformen eingesetzt werden. Das Training soll aber weiter abwechslungs- und variantenreich sein. Jetzt kann vermehrt Konditionstraining eingebaut werden, es gilt aber immer noch – vor allem in der Pubertät – Koordinations- vor Konditionstraining. Gerade in der Pubertät ist die Belastbarkeit zum Beispiel nach Längenschüben eingeschränkt.
Über kleine Hindernisse springen
Prof. Dr. Thomas Jaitner: „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen.“
Renate Schubert: „Kinder machen keine Fehler, sie sammeln Bewegungserfahrungen.“
Balancieren über einen Balken

Von Handballern lernen

Wie eine konsequente Ausrichtung des Trainings auf die Altersphasen von Kindern und Jugendlichen aussieht, machten Renate Schubert und Dietrich Späte vom Deutschen Handballbund deutlich. Bereits Anfang der 1990er Jahre begannen die Handballer ihre Verbands- und Ausbildungsstrukturen auf die kindgerechte motorische Grundausbildung umzustellen. Das reichte von Grundprinzipien wie die ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung der Kinder in den Vordergrund zu stellen, über eine Rahmentrainingskonzeption, kindgerechte Wettkampfstruktur, zielgruppenspezifische Trainerausbildung und Fachmedien bis hin zu einem Fortbildungskonzept für die Vereinsbasis. „Die Lebensbedingungen der Kinder haben sich stark verändert. Der Sport in der Grundschule kann die motorischen Defizite nicht auffangen“, fasste die ehemalige Jugendnationaltrainerin und Dozentin an der Uni Bielefeld zusammen. Hinzu kommt Leistungsdruck.

  • Vielseitigkeit
  • Sportartspezifische Voraussetzungen
  • Sportart betreiben

In welchen Altersklassen Kinder und Jugendliche gezielt eine Sportart betreiben und wie groß der Anteil der spielerischen Gestaltung (Vielseitigkeit) ist, zeigt die Grafik des Deutschen Handballbundes.

Dr. Meike Riedel: „Der Anteil von Kindern mit motorischen Defiziten hat zugenommen.“
Der entsteht, weil viele Kinder die Voraussetzungen für die geforderten Leistungen nicht haben. „Die Eltern sind aus meiner Sicht die größten Blockierer der Entwicklung ihrer Kinder“, sagte Schubert über ein in allen Sportarten vorhandenes Phänomen: ehrgeizige Eltern. Gleichzeitig ersticken die Kinder in Spielzeug. „Die Kinder spielen nicht mehr, sie räumen.“ Oder sie sitzen am Computer. „Besonders gut ausgeprägt ist heute die Fingermotorik, aber die Kinder können nicht gerade auf einer Linie laufen“, so die Vorsitzende des DHB-Arbeitskreises Kinder- und Schulhandball. Echte Herausforderungen für Trainer. Nicht nur müssen sie mit diesen motorischen Defiziten des Nachwuchses klar kommen, auch stellt das Training von Kindern besondere Anforderungen. Es geht weniger um die fachliche Vermittlung einer Sportart und ihrer spezifischen Technik. „Der Emotionsbogen zwischen Trainer und Kind muss stimmen, sonst ist das Kind ganz schnell weg. Training muss Spaß machen und Kinder brauchen Erfolgserlebnisse“, sagte Dietrich Späte, Präsident der Trainer- und Methodik-Kommission der Internationalen Handball-Federation. Dazu gehört auch das Leitbild, dass Kinder keine Fehler machen, sondern Bewegungserfahrungen sammeln. Das Training von Kindern muss spielerisch sein. Jedes Kind ist gleich wichtig, für jedes Kind werden im Handball Spielerlebnisse geschaffen und kein Kind wird frühzeitig spezialisiert. „Es geht um ausbildungsorientiertes statt ergebnisorientiertes Coachen“, beschrieb Dietrich Späte die Aufgabe des Ausbilders, der die Kinder für die Sportart begeistern soll, sie als eigene Persönlichkeiten sehen und statt kurzfristiger Erfolge das Training langfristig und entwicklungsgerecht aufbauen muss. Kurzum: „Er muss ein Herz für Kinder haben“, so der Ex Co-Trainer der Herren-Handball Nationalmannschaft.

Dabei beschränkt sich ein guter Kindertrainer nicht auf das reine Training und Spiel. Wenn die Kinder ihre Probleme schildern, sollte er oder sie zuhören und antworten. Hinzu kommt die Kommunikation mit den Eltern. „Die Kinder benötigen einen Förderer, Freund und Helfer“, fasste Späte die pädagogische Leistung der Ausbilder zusammen, die eine anspruchsvolle, aber hochgradig befriedigende Aufgabe erfüllen.

 

Goldenes Lernalter

Um kindgerechten Reitunterricht ging es im Vortrag von Pferdewirtschaftsmeisterin Lina Otto und Sportwissenschaftlerin Dr. Meike Riedel. Auf den theoretischen Input ihrer Vorredner aufbauend, widmeten sich die beiden Autorinnen des gerade neu im FNverlag erschienenen Buches „Kinderreitunterricht – kreativ und vielseitig gestalten“ den kindlichen Entwicklungsphasen, deren Auswirkungen auf den Reitunterricht sowie dem Thema Sicherheit. Im Fokus standen dabei drei Altersgruppen: Kindergartenkinder im Alter von vier bis sieben, Grundschulkinder im Alter von sieben bis zehn und Schulkinder im Alter von zehn bis zwölf Jahren. Begeisterungsfähig, mit hohem Bewegungsdrang ausgestattet, neugierig, fasziniert vom Pferd, zugleich aber ein Stück weit in ihrer eigenen Welt lebend, noch wenig Verständnis für Regeln, kaum Gefühl für Gefahren besitzend und nur kurze Zeit konzentriert, so lautete die Beschreibung des Kindergartenkindes. Entsprechend gehe es in dieser Altersgruppe weniger um klassischen Reitunterricht als vielmehr darum, Spaß am Umgang mit Ponys und erste Naturerfahrungen zu vermitteln und sich dabei den natürlichen Bewegungsdrang und Spieltrieb zu Nutze zu machen, erläuterte Lina Otto. Anders sind die Grundlagen bei Grundschulkindern. Diese zeichnen sich durch hohe Lernbereitschaft aus, entwickeln ein Verständnis für Regeln und weisen bessere körperliche Voraussetzungen für den Reitunterricht auf. Hier kommt der Gruppe als Lernpartner eine besondere Bedeutung zu. Die Bewegungsangebote sollten abwechslungsreich sein und dadurch die Fähigkeit fördern, sich situativ umzustellen. Bei Schulkindern ab zehn Jahren beginnt dann das „goldene Lernalter“. Erst in diesem Alter werden Bewegungen ganzheitlich erfasst, können komplexere Anweisungen umgesetzt und längere Belastungsphasen in den Unterricht eingebaut werden. Kinder in diesem Alter wollen gefördert und gefordert werden.

Spielerisch das Gleichgewicht schulen

Vom Spiel- zum Sitzkind

Dass sich die Bewegungswelt von Kindern in unserer Gesellschaft gewandelt und dies auch Auswirkungen auf den Reitunterricht hat, machte Dr. Meike Riedel noch einmal deutlich: „Der Mensch ist körperlich auf Bewegung programmiert, aber das eigentliche Spielkind wird in unserer heutigen Gesellschaft mehr und mehr zum Sitzkind. Der Anteil von Kindern mit motorischen Defiziten hat zugenommen“, sagte sie. Damit müsse der Reitlehrer umzugehen wissen.

Wenn Kinder heutzutage keine Rolle vorwärts mehr können, so hat dies auch Auswirkungen auf die Verletzungsgefahr im Falle eines Sturzes vom Pferd. Eine vielseitige Grundausbildung, die auch die motorischen Fähigkeiten fördert, ist somit in Punkto Sicherheit die beste Prävention. Das sieht auch Lina Otto so. Ihr Credo lautet „aktiver Schutz vor passivem Schutz“. Entsprechend sieht sie eine Schutzweste allenfalls als ergänzende Schutzmaßnahme. Viel wichtiger sei es, Losgelassenheit und Gleichgewicht zu schulen und beispielweise methodische Übungen zum (Ab-)Rollen in den Unterricht zu integrieren.
Ulrike Mohr: „Kinder lernen über Handeln und Tun, über Bilder und Geschichten.“

Kinderreitunterricht kreativ und vielseitig gestalten, ISBN 978-3-88542-896-1, Preis: 28,90 Euro

Termin vormerken

Ab Ende Januar sind folgende Seminare zum Thema Kinder und Ponys buchbar:

 

PM-Seminare mit Ulrike Mohr:

2. April in der Region Stuttgart
7. Mai in Bensheim
25. Juni in Langenfeld

 

Seminare speziell für Ausbilder mit Dr. Meike Riedel und Lina Otto:

30. März in Langenfeld
23. Mai in Luhmühlen

Fotos: Thoms Lehmann; mit frdl. Genehmigung des FNverlages entnommen aus „Kinderreitunterricht – kreativ und vielseitig gestalten“; Hrsg. Deutsche Reiterliche Vereinigung e.V. (FN)/Lina S. Otto und Meike Riedel, Warendorf, 2016.

Ponybuch für Kids

Wie kreativ und abwechslungsreich die Reitausbildung sein kann, erlebten die Gäste des Kongresses beim Vortrag von Ulrike Mohr. Ihre Kinderreitschule ursprünglich mit zwei Shetlandponys begonnen, führt die Pferdewirtschaftsmeisterin aus Hessen mittlerweile zwei erfolgreiche Betriebe, in denen rund 1.000 Kinder pro Woche den Umgang mit Pferden und Ponys erlernen. „Wir müssen uns damit beschäftigen, den Breitensport attraktiv zu machen und den ‚Wert Pferd‘ zu vermitteln“, sagte sie. Der Unterricht an der Basis beginnt bei ihr mit einem Ponybuch. Dieses bekommt jedes Kind, das zu ihr auf einen der Höfe kommt. Zwei Jahre lang wird es ausgearbeitet, jeder Monat steht unter einem Oberthema, zu dem während des zweistündigen Unterrichts an verschiedenen Stationen gearbeitet wird. „Für uns steht das Reiten nicht im Vordergrund“, berichtete Ulrike Mohr. Entsprechend gibt es neben Stationen, an denen geritten wird, auch Stationen, an denen die Kinder beispielsweise durch Rollenspiele Pferdekrankheiten kennenlernen. Dabei darf ein Kind ein Pferdekostüm anziehen und eine Krankheit schauspielerisch darstellen, während die anderen Kinder diese erraten müssen. Oder die Ponys bekommen mit Fingerfarbe Wunden angemalt, die dann von Kleingruppen mit Mullbinden und anderem Verbandsmaterial versorgt werden. Spielerisch prägen sich die theoretischen Inhalte so ein. „Kinder lernen über Handeln und Tun, über Bilder und Geschichten“, begründete Ulrike Mohr ihren Lernkonzept. Viele weitere praktische Beispiele folgten: An „Lotte“, einem geduldigen Holzpferd, wird das Satteln geübt, Futtermengen werden mit einer Kofferwaage abgewogen und bei der Bodenarbeit bauen sich die Kinder ihr Labyrinth mit kindgerechten Stangen aus Kunststoff selbst und entwickeln so automatisch ein Gefühl dafür, was möglich ist und was nicht. Oft bilden ein kleineres und ein größeres Kind eine Lernpartnerschaft. Der Ideenreichtum ist nahezu unbegrenzt, ständig kommt ein neuer Einfall hinzu, wird mit einer festangestellten Pädagogin didaktisch aufgearbeitet und in das Gesamtkonzept integriert. Für die größeren Kinder gibt es auch Dressur- und Springstunden, Ausritte und die Möglichkeit an Turnieren teilzunehmen. Ulrike Mohr präsentierte offen ihre Philosophie, den Ablauf ihrer Lerneinheiten untermauerte sie auch mit Videos, die über das FN-Trainerportal im Internet allen Interessierten kostenfrei zur Verfügung stehen.

Bei den Kongressbesuchern kam dies gut an. Noch lange nach ihrem Vortrag war sie von einer Menschentraube umringt und beantwortete im Gespräch geduldig alle Fragen. „Mit solchen Ausbildern, wie wir sie heute erlebt haben, sind wir in der Lage, solche Ausbildungskonzepte voranzutreiben. Deshalb kann es davon gar nicht genug geben. Wenn Sie dazu gehören, melden Sie sich bei uns, denn wir sind durchaus auf der Suche nach Leuten, die mit uns dieses Thema vorantreiben wollen“, appellierte Thies Kaspareit, Leiter der FN-Abteilung Ausbildung und Wissenschaft, an die 350 Ausbilder. Dass „Kinderreitunterricht“ zu Recht ganz oben auf der Verbandsagenda steht, zeigt die Nachfrage nach allen Angeboten der FN zu diesem Thema. „Ich bin überzeugt davon, dass dieser Kongress nicht das letzte Angebot von uns für die vielen interessierten Ausbilder an der Basis ist“, sagte Maria Schierhölter-Otte, Leiterin der Abteilung Jugend, die seit rund vier Jahren mit dem von den Persönlichen Mitgliedern geförderten Arbeitskreis Ponyspass, diverse Verbandsmaßnahmen entwickelt hat, um kleinen Kindern den Zugang zum Pony zu ermöglichen.

Adelheid Borchardt/Maike Hoheisel

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