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Alternative Heilmethoden, Teil 2

Heilende Hände

Neben Physiotherapie, Osteopathie und Chiropraktik bildet die Traditionelle Chinesische Medizin einen weiteren Baustein der alternativen Heilmethoden. Das PM-Forum gibt einen Überblick über die Jahrtausende alte Erfahrungsmedizin mit ihren verschiedenen Therapieformen, Einsatzgebieten und Chancen.
Keine Experimente: Akupunkturnadeln gehören immer in die Hand eines Tierarztes. Foto: Christiane Slawi
Die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) gilt als Erfahrungsmedizin, die sich aus verschiedenen Therapieverfahren zusammensetzt. Innerhalb der Veterinärmedizin wird auch von Traditioneller Chinesischer Veterinärmedizin (TCVM) gesprochen. Der Begriff Erfahrungsmedizin wird als Heilmethode definiert, die durch langjährige Beobachtung und Behandlung von Patienten entstanden ist. Der Erkenntnisgewinn ergibt sich also nicht aus klinischen Studien, sondern aus individuellen Therapiebeobachtungen. In China werden ca. 40 Prozent aller Erkrankungen mit TCM behandelt. Auch im pferdetherapeutischen Bereich hat sich die TCVM fest etabliert.
Die Akupunkturnadeln können je nach Verwendung und Bedarf unterschiedlich lang sein. Foto: Christiane Slawik
Keine Behandlung kann korrektes Reiten mit umfassender Gymnastizierung ersetzen. Foto: Stefan Lafrentz

TCM im Vergleich

Wie im PM-Forum 1/2020 im ersten Teil der alternativen Heilmethoden aufgezeigt, sind die Grenzen zwischen den einzelnen Therapieformen nicht genau definiert. So lassen sich zum Beispiel einzelne Therapieansätze und Vorgehensweisen in unterschiedlichen medizinischen Behandlungsbereichen finden. Die Akupunktur hingegen ist fester Bestandteil der TCM. Im Unterschied zur Physiotherapie, Osteopathie und Chiropraktik, die gezielt Läsionen und Blockaden des Bewegungsapparates behandeln, ist der Ansatz der TCM ganzheitlicher. Der Schwerpunkt liegt hier auf dem Energiefluss, der Schmerzreduktion und der Prophylaxe. Daraus ergibt sich auch die Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Fachkräften. So kann mittels manueller Therapie durch einen Osteotherapeuten eine Blockade zwar gelöst, mittels Therapie durch Akupunktur aber auch nachhaltig unterstützt werden, damit das Gelenk nicht erneut blockiert. Während die alternativen Heilmethoden rund um Physiotherapie, Chiropraktik und Osteopathie auf biomechanischem, anatomischem, neurologischem und grundlegendem hippologischen Wissen basiert, so beruht das theoretische Fundament der TCM auf der Lehre von Yin, Yang und Qi – also auf dem Energiefluss und dem Gleichgewicht des Körpers.

Therapieformen der TCVM

Innerhalb der TCVM gibt es unterschiedliche Therapieformen, deren Erfolg vor allem im Miteinander liegt. „Viele Patienten werden mit chronischen Krankheitsverläufen vor gestellt und deren Behandlung erfordert ein differenziertes Behandlungskonzept“, sagt Dr. Ina Gösmeier, Tierärztin und Spezialistin für TCVM. Grundlagen der TCM bilden die chinesischen Lehren im Zusammenhang mit Körper, Geist, Seele und Energie. Mit der Energie bzw. mit dem Energiefluss (Qi und Xue) werden die Körperstrukturen im Gleichgewicht (Yin und Yang) gehalten.
Auf den Leitbahnen des Körpers, den Meridianen, „fließt“ die Energie (Qi). Die Meridiane sind dabei an bestimmte Organe gekoppelt und übernehmen nach chinesischer Lehre spezifische Funktionen. Hier: Der Magen-Meridian, der seinen Ursprung unter dem Auge hat.
Ist dieser Energiefluss nun zum Beispiel durch eine Gelenkblockade unterbrochen, so wirkt sich dies negativ auf den gesamten Körper und seine Funktionen aus. Mechanische Blockaden und akute Verletzungen können durch die TCVM zwar nicht behandelt werden, die Behandlung trägt aber dazu bei, dass die Energie wieder besser durch den Körper „fließen“ kann und aktiviert dadurch die Selbstheilungskräfte. Akupunktur bildet wohl den bekanntesten Teilbereich der TCM. Obwohl  diese Therapieform in China schon seit tausenden Jahren praktiziert wird, fand sie in Europa erst um 1950 in der Humanmedizin Anwendung und wenig später dann auch in der Veterinärmedizin. „Akupunktur wird in China als Zhen-Jiu bezeichnet, was so viel wie Stechen und Brennen bedeutet“, erklärt Dr. Gösmeier. Das „Stechen“ basiert auf dem Setzen der Akupunkturnadeln und das „Brennen“ auf dem Anzünden von Moxakraut, das eine gezielte Wärmezufuhr an die Akupunkturpunkte gewährleistet.
Die Akupunktur und die Akupressur erfolgt über bestimmte Punkte, die auf den Energie-Leitbahnen des Körpers liegen. Hier: Yintang und Renzhong, die der Harmonisierung dienen und beruhigend wirken. Fotos (2): Lorella Joschko
„Die Anwendung der Akupunktur gehört allerdings immer in die Hand eines Tierarztes“, sagt Dr. Gösmeier. Hier sollte sich der Pferdehalter auf keine Experimente einlassen, weil das Setzen zu langer Nadeln an falschen Stellen auch negative gesundheitliche Folgen nach sich ziehen kann. „In erster Linie werden mit der Akupunktur Verspannungen und dazugehörige Lahmheiten therapiert. Sie umfasst aber auch die Behandlung von vegetativen Störungen, wie chronischen Atemwegserkrankungen, Sommerekzem oder psychischen Problemen“, erklärt die Tierärztin.

Dem Pferd Gutes tun

Akupressur wirkt nicht so intensiv wie die Akupunktur und kann deshalb auch von Laien angewendet werden. Im Zentrum steht hier die Massage einzelner Akupunkturpunkte. „Um als Laie Akupressur anwenden zu können, braucht man viel Zeit, Geduld und Interesse am Thema – es zahlt sich aber definitiv aus“, sagt Dr. Gösmeier. Die Akupressur ist vielseitig einsetzbar und kann leichte Schmerzen lindern und die Psyche der Pferde beeinflussen, was besonders in stressigen Situationen helfen kann. Auch als Rehabilitationsmaßnahme sowie in Zusammenhang mit der Akupunktur kann die Akupressur positiven Einfluss nehmen. „In erster Linie ist die Akupressur aber eine Möglichkeit, um seinem Pferd etwas Gutes zu tun und das Verhältnis zwischen Pferd und Mensch harmonischer zu gestalten“, resümiert die Spezialistin für TCVM. Die Phytotherapie bezeichnet die chinesische Pflanzen- und Kräuterheilkunde, die fester Bestandteil der TCM sowie der TCVM ist. Die Kunde über Heilpflanzen hat eine überaus lange Tradition in China und wird gekoppelt mit den anderen Therapieverfahren eingesetzt. „Die Wirkungen der Kräuter haben unterschiedliche Ausrichtungen. Entweder sollen sie aktivierend, beruhigend oder Energie verteilend wirken“, erklärt Dr. Gösmeier. Anwendung finden die Kräuter vor allem bei Atemwegsbeschwerden, Herz-Kreislaufstörungen, Leistungsabfall oder bei Verdauungsproblemen.
Der letzte Therapieaspekt der TCM umfasst die Diätetik sowie die Bewegungs- und Atemtherapie, die auf die TCVM aber nur in geringem Maß übertragen werden können. Gerade aber der Aspekt der Ernährung bzw. des Ernährungszustandes kann auch Einfluss auf die Gesundheit nehmen. So ist ein übergewichtiges Pferd zum Beispiel anfälliger für Probleme des Bewegungsapparats und der Atemwege. Auch die Bewegung selbst spielt eine entscheidende Rolle, die an viele Behandlungen gekoppelt ist. „So sind korrektes Reiten und gezielte Bewegung überaus wichtig für die Gesunderhaltung des Pferdes“, beschreibt die Tierärztin.
Das Zungenspiel eines Pferdes ist ein Faktor, der Aufschluss über den Typ gibt. Foto: Christiane Slawik

Buchtipp:

Das „Pferdegesundheitsbuch“ von Dr. Beatrice Dülffer-Schneitzer, erschienen im FNverlag, widmet dem Thema Akupressur ein eigenes Kapitel. QR-Codes zu begleitenden Videos ergänzen das umfassende Standardwerk. ISBN: 978-3-88542-718-6 4. Auflage 2019 520 Seiten, zahlreiche farbige Fotos, Zeichnungen, Übersichten, Tabellen und Videosequenzen 190 x 250 mm, gb. Hardcover 39,90 Euro www.fnverlag.de

Grundlagen der Behandlung

Eine Behandlung mit TCVM erfolgt immer ganzheitlich. „Die beste Wirkung wird aus dem Miteinander der ergänzenden Therapieverfahren er zielt“, erklärt Dr. Gösmeier. Den Ausgangspunkt für Akupressur und Akupunktur bilden die Akupunkturpunkte. Diese Punkte zeichnen sich durch eine erhöhte elektrische Leitfähigkeit und einen zeitgleich erniedrigten Hautwiderstand aus. Großteils liegen diese Punkte auf den Leitbahnen des Körpers, den Meridianen, die bestimmte Areale umfassen und an Organe gekoppelt sind. Dadurch ergeben sich auch die Namen wie Lungen- oder Dickdarm-Meridian. Durch diese Verbindungen können über die Akupunkturpunkte gezielt einzelne Organe bzw. die Organe betreffende Leitbahnen stimuliert werden. Weiterhin lassen sich auf Grundlage der Vernetzung auch die Problemstellen gezielter lokalisieren. „So kann fehlende oder gestaute Energie des Magen-Meridians zum Beispiel zu Verdauungsproblemen führen“, erklärt Dr. Gösmeier. Bei der Begutachtung des Pferdes wird immer zwischen den Ursachen eines Problems unterschieden. So wirken exogene pathogene Faktoren von außen auf das Pferd, zum Beispiel ein Virusinfekt, und endogene Faktoren von innen heraus, wie zum Beispiel Stoffwechselprobleme. „Ein gesundes Pferd, bei dem der Energiefluss im Gleichgewicht ist, ist deutlich resistenter gegenüber äußeren Faktoren“, erklärt Dr. Gösmeier. Verletzungen und Krankheiten müssen natürlich immer zunächst schulmedizinisch abgeklärt, betreut und behandelt werden. Durch den Einsatz von alternativen Methoden, wie der Akupunktur, können der Energiefluss und bestimmte Areale aber gezielt stimuliert werden, was wiederum die Selbstheilungskräfte des Körpers aktiviert. So fördert eine gute Durchblutung zum Beispiel nachweislich die Zellregeneration und somit die Heilung. „Die Traditionelle Chinesische Medizin kann den Organismus gezielt stärken und somit resistenter gegen exo- und endogene Faktoren machen“, folgert die Tierärztin.

Einmal entspannen bitte!

Tuina ist eine chinesische Massagetechnik. Im folgenden Video wird eine einfache Kopfmassage-Übung gezeigt, die jeder durchführen kann – aber bitte nur mit kurzen Fingernägeln und ohne Schmuck an den Händen!

Ursachensuche

Auch psychische Traumata können den Organismus des Pferdes schwächen, deswegen ist es besonders wichtig, gezielt der Ursache eines Problems auf den Grund zu gehen. „Viele Reiter und Pferdehalter sehen die Symptome als Problem, aber meistens liegt die Ursache ganz woanders“, erläutert Dr. Gösmeier. So kann das Problem eines hustenden Pferdes zwar in der Lunge lokalisiert werden, die Ursache des Problems kann aber in anderen Arealen des Körpers liegen. Hier greift die fundamentale Grundlage der Chinesischen Medizin, die den jeweiligen Organen neben ihrer wissenschaftlich belegten Funktion noch weitere Funktionen zuschreiben. So ist eine Aufgabe der Milz zum Beispiel die Feuchtigkeitsverteilung im Körper. Wird die Milz nun aber selbst belastet, gerät der Energiefluss aus dem Gleichgewicht und die Flüssigkeit wird nicht mehr verteilt, sondern lagert sich in der Lunge ab und führt zu Atemwegsproblemen. „Anhand der jeweiligen Befunde werden schließlich die Akupunkturpunkte ausgewählt“, erklärt Dr. Gösmeier. Die TCVM kann die Schulmedizin nicht ersetzen, ist aber durchaus eine erfolgsversprechende Ergänzung. Positive Auswirkungen zeigen sich meist schon während der Behandlung: Die Pferde dösen ein, kauen ab, gähnen und entspannen sich sichtlich. Durch die guten Erfolge und das breite Anwendungsgebiet eignen sich Akupunkturmaßnahmen auch hervorragend prophylaktisch, um das Wohlbefinden und die Gesundheit des Pferdes zu steigern und zu fördern.

Die Auswahl der Punkte

Nach Dr. Ina Gösmeier werden Pferde in verschiedene Typen unterteilt, an Hand derer letztlich die bestimmten Akupunkturpunkte ausgewählt werden. „Die Beurteilung des Pferdeverhaltens ist für die Auswahl der Punkte und die Behandlung sehr wichtig“, erläutert Dr. Gösmeier. Der Typ wird neben dem Verhalten noch über Merkmale des Exterieurs und des Zungenverhaltens charakterisiert. „Wenn man sein Pferd gut kennt und es genau beobachtet, ist die Typeinteilung gar nicht so schwer. Bei Unsicherheit sollte man die Einteilung aber lieber einem Spezialisten überlassen“, erklärt die Tierärztin.
Der Grundstein für ein gesundes Pferd wird bereits im Fohlenalter gelegt. Auch der Charakter festigt sich zusehends. Fotos: Christiane Slawik
Der Lebertyp ist sehr dominant. Bei der Einteilung der Pferdetypen spielen Rasse, Alter oder Größe keine Rolle – jedes Pferd ist anders.Foto: Christiane Slawik

Die fünf Pferdetypen

  • Gan- oder Lebertyp
  • Shen- oder Nierentyp
  • Pi- oder Milztyp
  • Xin- oder Herztyp
  • Fei- oder Lungentyp
Die Typbestimmung bedeutet nicht, dass ein Pferd an diesem Organ erkrankt ist. Es zeigt vielmehr die Besonderheiten des Typs, die bei der Behandlung wichtig sind. Die Bestimmung der Charaktereigenschaft ist für die Behandlung von großer Bedeutung, weil nach der chinesischen Lehre Psyche und Körper nicht voneinander zu trennen sind. „Der PiTyp ist auf der einen Seite zwar sehr zuverlässig, aber dafür auch sehr träge“, erläutert Dr. Gösmeier. Sie fährt fort: „Aus dieser Unterteilung kann auch der Reiter einiges mitnehmen. So braucht der Pi-Typ eine überaus gute Kondition, um trotz seiner Trägheit gute Leistung erbringen zu können.“ Aus der Typenunterteilung ergeben sich auch ganz allgemein Vorteile im täglichen Umgang mit den Tieren. So sollte ein ängstliches Pferd nicht gezielt mit stressigen Situationen konfrontiert werden, da dieses nachhaltig den Energiefluss beeinträchtigen. „Die chinesische Medizin hat viel mit Beobachtung zu tun“, erklärt die Spezialistin für TCVM. „Wenn man als Besitzer kleine Verhaltensänderungen bei seinem Pferd bemerkt, kann das schon auf Probleme hindeuten und man kann dementsprechend frühzeitig reagieren.“ In der Traditionellen Chinesischen Medizin geht es nicht etwa um plötzliche Heilung durch das Setzen von Nadeln, sondern vielmehr um die Betrachtungsweise des Körpers als Ganzes. „Ich möchte vor allem dafür sensibilisieren, dass der Reiter sein Pferd genauer beobachtet und nicht alles als Selbstverständlich hinnimmt. Pferde sind äußerst sensibel und zeigen Unwohlsein schon sehr früh an – man muss es nur richtig deuten können“, sagt die Tierärztin.

Zeit als Schlüssel

Die TCM hat sich über tausende Jahre hinweg entwickelt und wird erfolgreich in vielen Gebieten ergänzend zur Schulmedizin angewendet. Allerdings kann auch die beste Behandlung eine umfassende Gymnastizierung, korrektes und richtlinienkonformes Reiten nicht ersetzen. Gerade die Akupressur bildet eine gute Möglichkeit für den Pferdesportler selbst, seinem Pferd etwas Gutes zu tun und die Bindung zueinander zu stärken. „Das Wohlbefinden und die Gesunderhaltung des Pferdes hängen von vielen Faktoren ab. Wenn man sich aber die Zeit nimmt und in sein Pferd hineinhorcht, ist der erste große Schritt schon getan“, resümiert Dr. Ina Gösmeier. Lorella Joschko

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